Kommentar Parlamentswahl in Polen: Entspannter, offener, freizügiger
Erstmals wird eine antiklerikale und zugleich proeuropäische Partei ins Warschauer Abgeordnetenhaus einziehen. Das schien bis kurz vor der Wahl als unmöglich.
D as Wahlergebnis in Polen zeigt: Dieses Land hat sich verändert. Polen ist nicht mehr nur konservativ und katholisch. Zehn Prozent der Wähler haben sich für die linke, antiklerikale Protestpartei von Janusz Palikot entschieden. Das schien noch am Tag vor den Wahlen unmöglich.
Palikot-Themen wie die Rechte von Minderheiten interessierten die Parteien allenfalls in Sonntagsreden oder EU-Gremien. Das galt auch für die Linksallianz. Nach Palikots Erfolg werden die anderen Parteien nicht mehr an seinen Themen vorbeikommen.
Das spiegelt den Wandel, den Polens Gesellschaft durchgemacht hat. Die junge Generation sieht auf ihren Reisen, dass es anderswo entspannter, offener, freizügiger zugeht, als das in ihrer katholisch geprägten Gesellschaft bislang üblich war. Auch daher finden sie die Happenings und Tabubrüche Palikots erfrischend.
ist Polen-Korrespondentin der taz.
Alle anderen Parteien forderten im Wahlkamp entweder Kontinuität, Stabilität und Berechenbarkeit wie die regierenden Bürgerlichen und die Bauern - oder setzten auf Konfrontation mit Deutschland und Russland, wie die Rechtsnationalen von Recht und Gerechtigkeit. Das Wahlergebnis zeigt auch, dass diese politischen Ziele noch immer die Masse der polnischen Wähler ansprechen.
Trotzdem können die zehn Prozent für Palikot als Zäsur in Polens politischem Leben gewertet werden. Denn nun wird zum ersten Mal eine antiklerikale und zugleich proeuropäische Partei ins Warschauer Abgeordnetenhaus, den Sejm, einziehen. Ob sie Erfolg haben wird, hängt in großem Maße davon ab, ob die bunte Schar ein gemeinsames Programm findet. Auch Parteidisziplin wird nötig sein.
Doch Palikot ist ein erfahrener Politiker. Kaum jemand hätte ihm zugetraut, dass er aus dem "Haufen bunter Vögel" - Lesben, Schwule, Geschäftsleute, Studenten und Feministinnen - eine Partei formen könnte. Er hat es geschafft. Und die Chance, dass er das Bündnis auch zu weiteren Erfolgen führen kann, besteht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung