Kommentar Koalitionsbildung: Nach Merkel kommt Merkel
Friedenszeichen an die SPD senden, die Großmäuligkeit der CSU ignorieren: Niemand beherrscht die Regeln des Spiels besser als die Kanzlerin.
J e näher die ersten Verhandlungen über eine Wiederauflage der Großen Koalition rücken, desto rüder wird der Ton. Die CSU pöbelt gegen den „Europaradikalen“ Martin Schulz, Andrea Nahles greift mit „Bätschi“ rhetorisch mal wieder daneben. Man sollte darauf nicht viel geben. Es ist normal, dass jetzt mit Fanfarenstößen Maximalforderungen gestellt werden. Die roten Linien, die jetzt mit Verve gezogen werden, können in Verhandlungen schnell ausbleichen. Das sind die Spielregeln.
Und die beherrscht nach wie vor niemand besser als Angela Merkel. Die Kanzlerin hat den Kurs der Union für die Deals mit der SPD festgelegt. Das Ziel ist eine Koalition – damit hat Merkel nebenbei Jens Spahn, Fan einer Minderheitsregierung, gezeigt, dass sein Einfluss in der Partei weit geringer ist, alses in den Medienmitunter scheint.
An die SPD sendet Merkel Friedenszeichen: Nein, keine Bürgerversicherung, aber im Gesundheitssystem könne man viel ändern. Und die Gemeinsamkeiten in Sachen Europa seien doch auch recht groß. Merkel stellt die SPD damit vor die klare Entscheidung: Regieren oder Neuwahl, nichts dazwischen. Neuwahl ist für die erschöpfte SPD eine echte Drohung.
Damit – und nicht mit den Kneipenschlägersprüchen der CSU – erhöht die Union geschickt den Druck auf die SPD, sich bald an der Suche nach Kompromissen zu beteiligen. Für das blame game, die Suche nach dem Schuldigen, falls es mit der Groko doch nichts wird, ist die Union damit besser aufgestellt als die schlingernde SPD. Denn wer jetzt ganz oft „Stabilität“, „Verantwortung“, „Kompromissbereitschaft“ sagt, gewinnt. Nur die leicht irre wirkende CSU kann Merkels Matchplan ruinieren.
Es ist richtig: Das System Merkel, in dem politische Dehnungsübungen über alles gingen, ist an sein Ende gekommen. Doch es gibt niemanden, weder in der Union noch in der SPD, der die Schwäche der Kanzlerin auszunutzen versteht. So kommt nach dem Ende der Ära Merkel einstweilen – Merkel.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott