Kommentar Innenpolitik Türkei: Ein bisschen Entspannung
Einiges deutet darauf hin, dass Erdoğan innenpolitisch mehr den Konsens sucht. Zugleich arbeitet er weiter am Ausbau seiner Machtposition.
D er türkische Präsident Erdoğan scheint erste Entspannungssignale zu senden: Er werde alle Beleidigungsklagen gegen Politiker, Journalisten Schriftsteller und sonstige Kritiker zurückziehen, erklärte er während einer Großveranstaltung zum Gedenken der getöteten Zivilisten während des Putschversuches. Dies sei ein Zeichen der Anerkennung des gesamtgesellschaftlichen Widerstandes gegen die Putschisten.
Ist das der Zynismus eines Diktators oder tatsächlich ein Signal, dass Erdoğan bereit sein könnte mitzuhelfen, die tiefen Gräben innerhalb der türkischen Gesellschaft langsam wieder zuzuschütten? Es hat außer dieser Ankündigung noch andere Signale gegeben, die darauf hindeuten könnten. Zunächst hatten alle Parteien im Parlament gemeinsam den Putsch verurteilt, dann gab es ein Treffen Erdogans mit den Parteiführern der Opposition, allerdings unter Ausschluss der kurdisch-linken HDP.
Es gab eine erlaubte Großdemonstration der sozialdemokratischen CHP auf dem seit Jahren für Demos gesperrten Taksim-Platz in Istanbul, der Sonntag eine weitere in Izmir folgen soll. Und während der allerorten inszenierten Pro-Erdoğan-Demos werden immer wieder auch Atatürk-Bilder geschwenkt und kemalistische Hymnen angestimmt. Außerdem sind die beiden Hürriyet-Journalisten Bülent Mumay und Arda Akin, die sicher nichts mit der Gülen-Bewegung zu tun haben, aus der Haft entlassen worden.
Versucht sich Erdoğan also tatsächlich an einem neuen innenpolitischen Konsens? Ja und Nein. Erdoğan geht im Moment tatsächlich ein wenig auf das traditionelle kemalistische Lager zu. Die meisten Verhaftungen, Entlassungen und Schließungen von Medienanstalten zielen erst einmal auf die Gülen-Bewegung im weitesten Sinne. Bekannte linke Publikationen sind noch nicht betroffen.
Doch gleichzeitig nutzt Erdoğan die Post-Putschversuch-Situation, um immer mehr Macht an sich zu ziehen. Das Militär, die Geheimdienste und die Polizei sollen direkt seiner Kontrolle unterstellt werden, mit dem Ausnahmezustand baut er seine Macht aus, um per Dekret zu regieren.
Bei dem Treffen mit den beiden anderen Parteichefs wurde zwar beschlossen, einige Verfassungsänderungen gemeinsamen durchzuführen und insgesamt einen Neustart in der Debatte zu wagen, doch an Erdoğans Erwartung einer Präsidialverfassung hat sich nichts geändert. Und in der wichtigen Kurdenfrage bleibt Erdoğan so unversöhnlich wie in den letzten 12 Monaten.
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