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Kommentar Inklusion BehinderterAlles exklusive

Anna Lehmann
Kommentar von Anna Lehmann

Vor 6 Jahren wurde die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet. Noch immer ist Deutschland weit entfernt vom inklusiven Schulsystem.

Der Wunsch ist da, die Politik hinkt hinterher: Demonstration behinderter Kinder in Stuttgart Bild: ap

D ieses Zeugnis ist eine Ohrfeige für Deutschland: Sechs Jahre nach Unterzeichnung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist Deutschland von einem inklusiven Schulsystem weit entfernt.

Die von der Bundesregierung bezahlte Monitoring-Stelle, die ihren Bericht jetzt an den UN-Fachausschuss übersandte, stellt sogar fest, dass sich einige Bundesländer dem Auftrag, Inklusion zu verankern, ganz verweigern. Das ist nicht nur ein Rüffel für Deutschland, das ist auch eine Bankrotterklärung für den sogenannten Wettbewerbsföderalismus in der Bildung.

Wie die Siedler von Catan bestimmen die Bundesländer allein über ihre Schul- und Hochschullandschaften. Verbindliche Absprachen gibt es bestenfalls auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners. Das betrifft auch den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung. In der Kultusministerkonferenz einigten sich die Länder zwar darauf, dass er erstrebenswert sei – aber im Übrigen jedes Land selbst entscheide, wie viel Inklusion es sich leisten könne und wolle.

So ist es für ein behindertes Kind Glückssache, ob es in einem Bundesland aufwächst, wo Inklusion politisches Ziel ist. Oder ob es in einem Land groß wird, welches seine Sonderschulen schützt. Die Konvention verlangt nicht deren Abschaffung. Doch solange Sonderschulen existieren, werden sie auch befüllt. Aktuell werden drei von vier SchülerInnen mit Behinderungen in ihnen unterrichtet.

Die Bundesländer waren es nicht: die Bundesrepublik hat sich seinerzeit verpflichtet, die Konvention umzusetzen und unter anderem ein inklusives Schulsystem zu schaffen. Deshalb gehört Inklusion auf die Agenda der Bundesregierung – und darf nicht den Egoismen mancher Staatskanzleien geopfert werden.

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Anna Lehmann
Leiterin Parlamentsbüro
Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.
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7 Kommentare

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  • Mittendrin arbeite ich in einer sogenannten Inklusionsklasse im Land Bremen. Die Rahmenbedingugnen für die geistig behinderten Kinder werden immer schlechter und viele Kinder müssen sich wenige Assistenzen teilen, die dann auch schon mal willkürlich von der Behörde verteilt werden. Viele Kinder blieben gänzlich ohne Assitenz.

    Es ist ein Sparmodell und es scheint niemanden zu interessieren, weder die Gesellschaft, noch die Politiker. Kinder, die eine spezielle Förderung in ihren speziellen Bedürfnissen brauchen werden "gleich" gemacht und können in diesen Rahmenbedingugnen nicht mehr gefördert werden, unterm Strich bleibt Satt und sauber!

  • In der Bildung kann man"Inklusion" zum Sparen benutzen - Sonderschulen weg. Nicht schulfähige Kinder preiswert in Regelschulen. Minimale Betreuung dort - Geld gespart.

    Deshalb machen die Bonzen das.

    Die anderen Politikfelder läßt man aus - da würde "Inklusion" viel Geld kosten.

    Also wird da geschwiegen.

    Geld werden Sie für diese Ziele kaum kriegen - so lange selbst die Autobahnen bröckeln.

  • Teil 2:

    Aber auch Menschen ohne diese Einschränkung sind und bleiben auch bei hochwertiger Ausbildung (z.B. Studium) überdurchschnittlich häufig arbeitslos.

     

    An anderer Stelle wurde auch schon über die Koppelung der Finanzierung von Assistenz ans Sozialgessetz gesprochen. Auch das ist immer noch ein Problem.

     

    Aber auch so "banale" Dinge wie Freizeit barrierefrei gestalten, ebenso der Zugang zu politischer Bildung etc., sind Teil der UN-BRK.

     

    Die Konvention ist Menschenrecht. Wer sich mit ihr befasst, wird verstehen, dass sie nichts anderes ist, als die Umsetzung der Allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Behinderung. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

  • Teil 1

    Allgemein stören mich hier in diesem Artikel zwei Dinge: Erstens wird wieder von "Behinderten" gesprochen. Wir sind Menschen mit Behinderung, das Menschsein kommt davor, weil wir eben nicht nur dadurch definiert werden möchten, was wir nicht können. Bei einer dunkelhaarigen Frau ist die Farbe des Haares kein Defizit, sie als die Dunkelhaarige zu beschreiben, ist zwar immer noch stark verkürzend, aber kein Mensch ginge von davon aus, dass diese Frau nur dunkelhaarig sein kann.

     

    Bei Menschen mit Behinderung ist dieser Blick dagegen häufig anders. Uns werden regelmässig die gleichen Fähigkeiten, Denkweisen oder Empfindungen, die Menschen ohne Behinderung zugestanden werden, nicht zugestanden.

     

    Ein Zweites: Inklusion wird auch in diesem Artikel rein auf die Bildung reduziert. Inklusion betrifft jedoch das gesamte Leben. Bildung ist also lediglich ein Teil davon.

     

    Nicht nur, dass immer noch so getan wird, als sei die Integration von Kindern mit Behinderung in den Regelschulalltag schon Inklusion (die wenigsten Schulen sind tatsächlich räumlich, personell und finanziell so aufgestellt, dass Kinder mit und ohne Behinderung gleichermassen in ihren Fähigkeiten gefördert werden), in der Regel hört nach Schulabschluss die Inklusion auf. Für Menschen mit schwerer Lernbeeinträchtigung bedeutet dies weiterhin der Weg in die Werkstatt für behinderte Menschen. Das heisst, sie kommen aus dem Sonderweg - der Exklusion - nicht heraus.

  • KeinE BritIn benutzt das Wort "Handicap" für Behinderung! Ich, als Betroffene, ebensowenig. Die UN-Konvention spricht von "Persons with Disability". Dieser Begriff hat sich auch allgemien durchgesetzt, hat aber kein brauchbares deutsches Äquivalent.

     

    Da der lange überfällige Angleich des Behinderungsbegriffes an die Definition der WHO endlich auch in Deutschland angedacht ist, habe ich noch Hoffnung, dass der Begriff endlich eine Abkehr vom medizinisch-defizitären Blick wird.

  • Bitte das Wort 'behindert' durch 'handicapted' ersetzen.

     

    Ja, ich weiß, keine Anglizismen.

    Verstehe ich.

     

    Dennoch:

    Behindert sind wir alle.

    Nur bei dem Einen sieht man es und bei dem Anderen nicht.

    Jedenfalls nicht auf den ersten blick.

    • @adagiobarber:

      Wie hilft es der Person, wenn ich "handicapped" (wir sind uns nichtmal über die Syntax einig) sage statt "behindert"? Beides sind soziale Konstrukte und keine Rechtsbegriffe.

      Da wäre "schwerbehindert" gem SGB IX zu nennen. Die sind dann sicher "wirklich" behindert.