Kommentar Grünen-Spitzenduo: Erdrutsch in Grün
Das neue Spitzenduo der Grünen Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin ist eine Überraschung. Und demütigt Claudia Roth.
D as Wichtigste vorab: Das frisch gewählte Spitzenduo der Grünen ist eine gute Lösung. Die Parteibasis hat, wie Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke zu Recht feststellt, klug entschieden. Sie gab in der ersten basisdemokratischen Spitzenkandidaten-Kür einer Partei Jürgen Trittin das stärkste Ergebnis mit auf den Weg.
Die Mitglieder erkennen damit an, dass der Fraktionschef das Gewicht hat, um in der Finanz- und Europapolitik mit der Kanzlerin und dem SPD-Kandidaten Steinbrück mitzuhalten. Trittin gilt in der Partei zudem als eine Art personifizierter Atomausstieg. Die Grünen wären verrückt gewesen, hätten sie im Wahlkampf auf Trittin verzichtet – auch wenn seine steife Art auf Marktplätzen nicht wirklich ankommt.
Ihn ergänzt Katrin Göring-Eckardt. Auch diese Personalie ist wahlkampfstrategisch sinnvoll. Göring-Eckardt ist zwölf Jahre jünger als Trittin, moderater und sanfter im Auftritt und durch ihre Arbeit in der evangelischen Kirche in kirchlichen Milieus breit anerkannt.
Göring-Eckardt ist habituell die ideale Ergänzung zu Trittin, sie kann eine andere Art der Ansprache liefern, eine andere Erzählung. Um es im Slang der Marketingexperten zu sagen: Trittin plus Göring-Eckardt, das ist ein breites Portfolio.
leitet das Parlamentsbüro der taz.
Mehr an Inhalte interessiert
Bei all dem ist jedoch klar: Die Wirkung des Spitzenduos für die Grünen darf man nicht überschätzen. Ihre Wähler interessieren sich traditionell stärker für Inhalte als für die Personen. Zudem wird es im Laufe des Wahlkampfes immer stärker um das Duell zwischen Kanzlerin und ihrem sozialdemokratischen Herausforderer gehen, während die Spitzenleute der kleineren Parteien in den Hintergrund treten.
Ebenso ist zweifelhaft, ob die Grünen gegen Angela Merkel und ihre CDU in konservativen Milieus im Bund wirklich relevant Stimmen holen. Diese These, die von Göring-Eckardts Unterstützern immer wieder zu hören ist, ist zumindest gewagt. Und Baden-Württemberg taugt nicht als Folie. Gegen eine traditionalistisch-muffige CDU unter Stefan Mappus eine Wechselstimmung zu erzeugen ist etwas anderes, als dies gegen eine weich-modern agierende CDU unter einer beliebten Merkel zu schaffen. Aber immerhin: Das Portfolio für diesen Versuch stimmt.
Überraschung
Was das Urwahl-Ergebnis in der Partei anrichtet, kommt einem Erdrutsch gleich. Es überraschte fast alle Parteistrategen, und es wird massive Wirkungen entfalten, die in Gänze noch nicht zu überschauen sind.
Am stärksten trifft das Basisvotum die langjährige Parteivorsitzende Claudia Roth. Roth galt bei den Grünen bis Sonntag als Frau der Basis, die jeden Kreisverbandschef persönlich kennt, und jeden Parteitag mit einer rhetorischen Umarmung drehen kann. Die Basis ist Roths Verankerung, ihre Verbündete, ihre Machtquelle. Dieses Image hat das Votum nicht zerstört, aber doch massiv beschädigt.
Dass sich nur ein Viertel der Mitglieder Roth ganz vorn vorstellen konnte, ist für sie eine Demütigung, die ihr Wirken als Chefin in Frage stellt. Roth muss jetzt für sich klären, ob sie sich auf dem Parteitag nächste Woche noch einmal als Vorsitzende zur Wahl stellt.
Nie Frau der Basis
Die zweite große Überraschung ist der klare Sieg Göring-Eckardts, mit dem intern niemand rechnete. Die aus dem Osten stammende Sozialpolitikerin bekam fast die Hälfte der Stimmen und lag bei den Frauen klar vorn. Göring-Eckardt, die nie als Frau der Basis galt, hat nun mächtige Rückendeckung. Ihr ist ein Comeback geglückt und eine Neuerfindung ihrer selbst als Sozialpolitikerin.
Als Fraktionsvorsitzende war sie in der rot-grünen Regierung im Bund schon einmal ganz oben. Sie bejubelte damals die Hartz-Reformen und setzte sie gegenüber einer skeptischen Fraktion durch. Heute wirbt sie engagiert dafür, den unteren Rand der Gesellschaft nicht zurückzulassen und bezeichnet die Grünen als „Wir-Partei“. Diese Erzählung kam offenbar an, viele Mitglieder sind vielleicht nicht lang genug dabei, um die Widersprüche dieser Wandlung zu identifizieren. Göring-Eckardt wird jetzt bei der Ausrichtung der Grünen ein wichtiges Wort mitsprechen.
Auch eine Machtfrage innerhalb des Realo-Flügels hat die Urwahl geklärt. Renate Künast, die klar hinter Göring-Eckardt liegt, wird es nach diesem Ergebnis schwer fallen, weiter die Meinungsführerschaft in ihrem Flügel zu beanspruchen. Davon könnte Parteichef und Realo Cem Özdemir profitieren. Gleichzeitig kann nun Göring-Eckardt mit Recht stärkere Mitsprache anmelden – die Lage ist also unübersichtlich.
Die Grünen starteten die Urwahl ursprünglich deshalb, weil sich ihre mächtigsten Politiker in Machtfragen verhakt hatten. Jetzt hat die Basis gesprochen. Und sie hat, dies muss man ihr lassen, gleich mehrfach machtvoll Position bezogen.
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