Kommentar Europäische Kommission: Klüngelei aus dem Hinterzimmer
Das „deutsche Europa“ ist längst Realität. Die Personalie Martin Selmayr als Generalsekretär der Kommission ist ein Symbol für die tiefe Krise der EU.
W as ist eigentlich in Brüssel los? Seit Wochen schimpfen alle über Martin Selmayr, den neuen Generalsekretär der EU-Kommission. Der 47-jährige Deutsche wird mal als machtgieriges Monster, mal als ausgebuffter Rasputin tituliert. Nur Kanzlerin Angela Merkel lobt die „effiziente Arbeit“ des CDU-nahen Juristen. Alle anderen scheinen ihn zu fürchten – oder sogar zu hassen.
Schuld ist nicht nur die hemdsärmlige Art, mit der Selmayr vom kleinen Lobbyisten des Bertelsmann-Konzerns zum mächtigen Aufseher über 32.000 Kommissionsmitarbeiter aufgestiegen ist. Mal sticht er vertrauliche Informationen durch, mal beschimpft er Journalisten, die nicht seiner (Selbst-)Darstellung folgen. Kein Wunder, dass Selmayr schlechte Presse hat.
Schuld ist auch und vor allem Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der Selmayrs atemberaubenden Aufstieg ermöglicht hat. Schon bei der Europawahl 2014 stützte sich der konservative Luxemburger auf den konservativen Deutschen – im Namen der konservativen Europäischen Volkspartei.
Danach machte Juncker ihn erst zum Kabinettschef, dann zum Zuchtmeister. Obwohl zum „Team Juncker“ ehemalige Premierminister gehören, wagt niemand, offen zu widersprechen. Ein Klima der Angst machte sich in der EU-Behörde breit, nachdem „Junckers Monster“ die traditionellen Ressorts zerschlagen und die Kommissare zu PR-Beauftragten degradiert hatte.
Mit der „politischen Kommission“, die Juncker versprochen hatte, hat das nichts mehr zu tun, leider. Er wollte die EU-Behörde, die die Gesetze vorlegt und die Einhaltung der Verträge überwacht, von wirklichkeitsfremd gewordenen Regelungen befreien.
Statt an abstrakten Normen wollte Juncker seine Arbeit an konkreten Ergebnissen messen. Ein guter Ansatz, der durchaus Erfolge hatte – bei der Abkehr von der deutschen Austeritätspolitik und der Auflage eines europäischen Investitionsprogramms. Doch schon bald widersetzte sich Merkel der neuen Politik aus Brüssel. 2015, in der Schuldenkrise in Griechenland, kam die Wende.
Juncker könnte genauso gut „Game over“ rufen
Seither geben wieder die Hauptstädte den Ton an, allen voran Berlin. Juncker hat sich als zu schwach erwiesen, um den Staats- und Regierungschefs etwas entgegensetzen zu können. Und er ist zu müde oder zu krank, um weiter aktiv zu führen. Nach dem britischen EU-Referendum 2016 erklärte er, nicht für eine neue Amtszeit zu kandidieren. Seither hat Selmayr freie Bahn.
Dass er nun auch noch zum Generalsekretär befördert wurde, zeigt, wie tief Juncker gesunken ist. „Wenn er geht, gehe ich auch“, soll er auf einem Parteitreffen der Konservativen gedroht haben. Juncker hätte genauso gut „Game over“ rufen können. Ohne Selmayr geht nichts mehr. Er hat nun einen unbefristeten Vertrag und will wohl auch Junckers Nachfolger seinen Kurs vorgeben.
Dies ist der eigentliche Skandal. Wenn Selmayr bestimmen darf, wer „unter ihm“ die EU führt, dann können wir uns die nächste Europawahl sparen. Dann hat es keinen Sinn mehr, Spitzenkandidaten zu nominieren, die um die Führung in Brüssel kämpfen.
Dass Selmayrs Nominierung handstreichartig erfolgte, wie das Europaparlament klagt, ist im Vergleich dazu fast eine Nebensache. Fast alle wichtigen EU-Posten werden im Hinterzimmer ausgekungelt. Auch dass nun ein weiterer Deutscher einen Führungsjob bekommt, ist nur ein Symptom. Das „deutsche Europa“ (Ulrich Beck) ist längst Realität; Selmayr symbolisiert es nur besonders drastisch.
Der Mann, der sich selbst als überzeugten Europäer sieht, ist zum Symbol für die tiefe Krise der EU geworden. Immerhin gibt es einen kleinen Trost: Der nächste Kommissionspräsident könnte Selmayr wieder absetzen – genauso handstreichartig, wie er eingesetzt wurde. Und das Europaparlament hat auch noch ein Wörtchen mitzureden. Hoffentlich traut es sich.
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