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Kommentar Europa und tote GeflüchteteZurück zur Vision

Erich Rathfelder
Kommentar von Erich Rathfelder

Ein Europa ohne einigende Idee wird immer neue Tote produzieren. Mauern werden niemandem helfen, außer vielleicht verbrecherischen Schleppern.

Mit einer Installation zeigt das Kollektiv Captain Borderline in Düsseldorf, wo es Europa derzeit sieht. Foto: dpa

W elch eine Tragödie. Tote in einem Lastwagen. Von Verbrechern alleingelassen. Ein tragisches Symbol für die Balkankonferenz, in der sich die Zerrissenheit Europas in der Flüchtlingsfrage spiegelt.

Menschlichkeit verschwindet im Streit über Quoten. „Nationale Interessen“ verhindern jede Debatte. Die Polen verweisen auf Flüchtlinge aus der Ukraine, die Slowaken wollen nur Christen, Franzosen und Briten halten sich bedeckt, Italien fühlt sich überlastet, von Griechenland nicht zu reden. Und die Ungarn bauen eine Mauer, als ob sie den Eisernen Vorhang vergessen hätten.

Vergessen ist fast auch die Konferenz der EU in Thessaloniki von 2003. Damals versprach man den Nachfolgestaaten Jugoslawiens plus Albanien, ihnen den Weg in die EU zu ebnen. Die Menschen hofften; führende Politiker wollten die Bedingungen akzeptieren: Demokratisierung, Rechtsstaat, Menschenrechte und Toleranz den Religionen gegenüber. Es herrschte Hoffnung, Teil eines friedlichen und vereinten Europas zu werden.

Aus dem bald in Sarajevo kursierenden Witz: Wenn Europa nicht zu uns kommt, kommen wir nach Europa, ist bedrückende Wirklichkeit geworden. Die Hoffnungen auf dem Balkan sind in dem Maße verflogen, wie sich das Europa der EU selbst zerlegt hat. Die Visionen sind im Tagesgeschäft untergegangen, im Hickhack um Finanzhilfen und Eurokrise. Europa hat den Glauben an sich selbst verloren. Die Verfestigung des Raubtierkapitalismus und korrupte Regime auf dem Balkan taten ein Übriges.

Mauern werden da nicht helfen. Eine neue Visaregelung wird als Zurückweisung empfunden – und das Chaos verschärfen. Wer Schlepper bekämpfen will, muss auch an die Korruption ran. Albanien, Mazedonien und Kosovo zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, mag zunächst etwas Luft verschaffen. Doch der Plan dürfte am Verfassungsgericht scheitern. Europa muss aus dem kleinlichen Denken raus und zurück zur Vision.

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Erich Rathfelder
Auslandskorrespondent Balkanstaaten
Erich Rathfelder ist taz-Korrespondent in Südosteuropa, wohnt in Sarajevo und in Split. Nach dem Studium der Geschichte und Politik in München und Berlin und Forschungaufenthalten in Lateinamerika kam er 1983 als West- und Osteuroparedakteur zur taz. Ab 1991 als Kriegsreporter im ehemaligen Jugoslawien tätig, versucht er heute als Korrespondent, Publizist und Filmemacher zur Verständigung der Menschen in diesem Raum beizutragen. Letzte Bücher: Kosovo- die Geschichte eines Konflikts, Suhrkamp 2010, Bosnien im Fokus, Berlin 2010, 2014 Doku Film über die Überlebenden der KZs in Prijedor 1992.
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10 Kommentare

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  • Ja, eine Vision von Europa.

     

    Großbritannien beginnt und tritt aus dieser EU aus. Es schließen sich Finnland und mehr und mehr Staaten an und sie erledigt sich selbst. Es gründet sich auf Basis des Europarates eine neue Vertragsgemeinschaft für die Probleme, die eine kleinere Verwaltungseinheit nicht lösen kann (z.B. ist ein explodierendes AKW solch ein Problem wie auch Schadstoffausstoße oder klimaschädigende Industrie, also alles die Sachen, die die EU heute nicht anpackt).

    Ansonsten lösen wieder alle ihre Probleme selbstbestimmt und werden reich wie die Nicht-EU-Mitglieder Norwegen oder Schweiz.

     

    Das ist eine Vision.

  • Europa muß zum Arzt.

  • "Europa muß zurück zur Vision." Zu welcher denn, bitte? Es hat sie real nie gegeben. Das Ziel von Anfang an war eine europäische Wirtschaftsgemeinschaft im Rahmen einer politischen Union. Im Sinne eines Staates mit einer zentralen Regierung war Europa nie konzipiert. Charles de Gaule brachte es einmal auf den Punkt: "Wir wollen ein Europa der Vaterländer". So ist es geblieben und so wird es bleiben. Die Vision von Europa als "gemeinsames Vaterland" gibt es nur vor laufender Kamera. Wir haben eben nicht dieselben Voraussetzungen wie die USA. Europa ist ein historisches Mosaik aus Nationalstaaten mit jahrtausende alter eigener Geschichte und kein weites Land mit einer Urbevölkerung. Träumen darf man ja, aber es wird ein Traum bleiben.

  • Tod und Gesundheit der Flüchtlinge sind diesen Politikern doch herzlich egal. Einst wurde doch nur zum Beispiel das Programm Mare Nostrum eingestellt, für dessen Fortführung sich auch die derzeitige Kanzlerin nicht einsetzte.

     

    Und jetzt jammern die gleichen Politiker um das Leben der Flüchtlinge, wenn der Tod nicht durch verantwortungslose Politiker sondern durch verantwortungslose Schlepper verursacht wurde. Sie würden verehrt und Fluchthelfer genannt, wenn es um den Weg aus der DDR nach Westdeutschland ginge. Aber so sind es strafwürdige Schlepper, weil sie Menschen in Not gegen Geld aus dem Land bringen. Das ist doch schlicht doppelbödige Heuchelei.

    • @Celsus:

      Den Vergleich bzw. diese Kritik am zweierlei Maß bei der Flucht aus der DDR und bei der Flucht jetzt aus anderen Herkunftsländern habe ich mich bislang kaum zu formulieren getraut. Zu schnell kommt immer der Vorwurf, daß es doch was ganz anderes sei und der Vergleich der Gesamtzahl der Mauertoten mit der Zahl der inneralb weniger Wochen im Mittelmeer ersoffenen Flüchtlinge nur schäbiges Aufrechnen.

       

      Ja, schäbiges Aufrechnen, bittere Zahlen, vielleicht beeindrucken die die Politiker auch über die akuten Betroffenheitsreden hinaus.

       

      Danke für den Vergleich!

  • "Menschlichkeit verschwindet im Streit über Quoten. „Nationale Interessen“ verhindern jede Debatte."

     

    Wo Menschlichkeit herrscht, braucht es keine Debatte. Da hilft jeder, was er kann.

     

    Europa anno 2015: Ein Wrack.

  • Europa produziert keine toten. Assad produziert tote, der IS produziert tote, Afewerki produziert tote.

    • @Tim Leuther:

      Sie haben den Westen vergessen, der mit illegalen Kriegen auch zu dieser Flüchtlingswelle beigetragen hat.

      • @Rainer Bartel:

        In Syrien war der Westen nie involviert bevor der Konflikt ausgebrochen ist. Mehrer Kommentatoren sagen nun: Der Westen ist schuld, das er nichts tut. In Lybien war der Westen nur ganz kurz involviert. Da werfen manche Kommentatoren dem Westen vor zuviel bzw. zuwenig gehandelt zu haben.

        Der Irakkrieg war falsch. Deutschland war aber nicht dabei.

         

        So oder so. Jemand wird immer Sagen der Westen ist schuld.

         

        Aber die Konflikte die aktuell exsistieren, insbesondere der in Syrien sind endogen Nahöstlich.