Kommentar Erdoğans Syrienpolitik: Strategie der geschlossenen Tür
Die Türkei hat an der Grenze zu Syrien de facto eine Schutzzone geschaffen. Erdoğan behält sich so einen militärischen Eingriff bewusst vor.
Rund 50.000 Flüchtlinge aus Aleppo campieren im Moment auf einem Streifen zwischen der türkischen Grenze und der belagerten Stadt. Entgegen internationalen Forderungen lässt die türkische Regierung die vielen Flüchtlinge der letzten Tage nicht ins Land, sondern versorgt sie mehr schlecht als recht auf syrischem Territorium. Damit entsteht de facto eine Schutzzone in Syrien, wie sie Erdoğan immer gefordert, von den USA und der Nato aber nie bewilligt bekommen hat.
Die offizielle Begründung der Erdoğan-Regierung für ihre Politik der geschlossenen Tür lautet: Die Türkei sei mit zweieinhalb bis drei Millionen syrischen Flüchtlingen im Land bereits überlastet. Weitere Hunderttausende Syrer, die bei einem Fall Aleppos erwartet werden, könne das Land beim besten Willen nicht mehr tragen.
Dieses Argument ist plausibel, da weder Europa noch andere Länder bereit sind, der Türkei Flüchtlinge in nennenswertem Umfang abzunehmen. Doch das ist nicht der wahre Grund, warum Erdoğan die syrischen „Brüder und Schwestern“, von denen er gern spricht, jetzt buchstäblich im Regen stehen lässt.
Die Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Nachbarland war nie nur ein humanitärer Akt, sondern immer auch ein Instrument, dessen sich die türkische Regierung bei einer späteren Mitgestaltung Syriens bedienen wollte. Und obwohl es im Moment so aussieht, als würde Assad dort mit Hilfe Russlands und des Iran wieder die Oberhand gewinnen, will Erdoğan einen Fuß in der syrischen Tür behalten.
Dazu dienen jetzt die Flüchtlinge aus Aleppo. Solange sie in Syrien sind, müssen sie nicht nur dort versorgt, sondern im Zweifelsfall auch geschützt werden. Je weiter diese Schutzzone zu einem Flüchtlingscamp ausgebaut wird und umso mehr Menschen noch kommen, desto weniger kann man diese Zone ungeschützt lassen. Das werden im Zweifel auch die USA zähneknirschend akzeptieren müssen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland