Kommentar EU-Parlamentspräsident: Ironie der Geschichte
Zum ersten Mal seit Jahren stand nicht fest, wer gewinnen würde. Mit Antonio Tajani ist das EU-Parlament über Nacht nach rechts gerückt.
I n Deutschland wird Martin Schulz für seine Arbeit im Europaparlament gefeiert. Auf EU-Ebene sieht das etwas anders aus. Schulz führte die Straßburger Kammer wie ein Alleinunterhalter und kungelte wichtige Entscheidungen im Hinterzimmer aus. Das war nicht gut für die Demokratie.
Insofern ist es ein Fortschritt, dass bei der Wahl seines Nachfolgers frei abgestimmt werden konnte. Die Große Koalition, die Schulz mit den Konservativen vereinbart hatte, ist zerbrochen. Zum ersten Mal seit Jahren stand nicht von vornherein fest, wer gewinnt.
Chaos ist deshalb nicht ausgebrochen, auch wenn sich einige Fraktionen mit der neuen Freiheit schwertun. Die Konservativen schickten mit dem Berlusconi-Buddy Antonio Tajani den denkbar schlechtesten Kandidaten ins Rennen. Die Liberalen flirteten mit der Fünf-Sterne-Bewegung des italienischen Komikers Beppe Grillo.
Dass sich beide Fraktionen nun zu einer neuen „proeuropäischen“ Koalition zusammengetan haben, klingt vor diesem Hintergrund wie ein schlechter Witz. Das Europaparlament ist über Nacht nach rechts gerückt, statt sich wie angekündigt klar von Nationalisten und Populisten abzugrenzen.
Der ehemalige EU-Industriekommissar Antonio Tajani ist Nachfolger von Martin Schulz als Präsident des Europäischen Parlaments. Der 63-jährige Italiener habe mit 351 Stimmen die erforderliche Mehrheit vor dem Sozialdemokraten Gianni Pittella erreicht, sagte Schulz am Dienstag nach dem vierten Wahlgang in Straßburg. Tajani wurde von der größten Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) aufgestellt, zu der auch CDU und CSU gehören. Er ist Mitglied der Partei Forza Italia des früheren italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi. Kritiker werfen ihm eine zu große Nähe zu Berlusconi sowie eine zu nachgiebige Rolle gegenüber europäischen Autokonzernen im Abgasskandal während seiner Zeit als EU-Kommissar vor. (rtr)
Sozialdemokraten, Grüne und Linke hatten der Wahl Tajanis am Dienstag nicht mehr viel entgegenzusetzen. Dass er die meisten Stimmen erhielt, ist eine Ironie der Geschichte. Schulz erwarb sich seinen guten Ruf, weil er gegen Berlusconi aufbegehrte. Tajani hat sich dagegen nie aus dem Schatten seines Ziehvaters gelöst.
Mit Tajani rückte zudem der dritte Konservative an die Spitze der EU – nach Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk. Mehr als die Hälfte der Wähler wird von diesen drei EU-Chefs nicht mehr politisch repräsentiert. Das zeigt, dass die europäische Demokratie immer noch nicht richtig funktioniert – trotz der freien Wahl in Straßburg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP