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Kommentar EU-GipfelBrüssel, Think Big!

Stefan Reinecke
Kommentar von Stefan Reinecke

Die Europäische Union braucht jetzt dringend einen Marshallplan für Flüchtlinge. Aber die Krisenbearbeitungsmaschine stockt.

Unter dem Schriftzug: die EU-Außengrenze, über die jetzt immer alle reden. Foto: dpa

D ie Europäischen Union existiert in drei Aggregatzuständen – vor der Krise, in der Krise und nach der Krise. Auch miese Meldungen aus Brüssel werden daher selten als katastrophal empfunden. Irgendwie vertrauen wir darauf, dass Technokraten in Nachtsitzungen am Ende Formelkompromisse austüfteln, die das scheinbar Unvereinbare doch kompatibel machen. CSU-Mann und EU-Skeptiker Alexander Dobrindt hat die Brüsseler Logik 2011 grimmig wie zutreffend kommentiert: „Die Macht der EU ist nach jeder Krise größer geworden.“

Diesmal kann es anders ausgehen. Die Folgen eines Scheiterns in Sachen Brexit, dem Austritt Großbritanniens, und der Flüchtlingskrise sind unabsehbar. Kann sein, dass es diesmal nicht reicht, die gut geölte Krisenbearbeitungsmaschine anzuwerfen.

Der Brexit ist dabei das vergleichsweise einfachere Problem. London steht seit Jahrzehnten auf der Bremse, wenn es um mehr Einfluss für die EU geht. Ein Austritt Großbritanniens aus der politischen Union müsste kein Fiasko sein. Der wirtschaftliche Schaden würde vor allem das Königreich selbst treffen. Man kann ihn begrenzen, etwa wenn Großbritannien den Status der Schweiz hätte. Für eine stabile, selbstbewusste EU ist eine Existenz ohne Engländer (und vielleicht mit den Schotten) vorstellbar.

Aber so ist es nicht. Denn die EU ist so fragil wie nie. Wenn ausgerechnet das Land, in dem der Pragmatismus erfunden wurde, dem nationalen Ressentiment den Vorzug vor kühler Berechnung gäbe, würde dies derzeit wie ein Brandbeschleuniger wirken. Das gravierendere Problem ist die Unfähigkeit der Europäischen Union, auf die Flüchtlingsströme zu reagieren.

Scheitern an hartnäckigen Nationalismen

Es ist eine bittere Pointe, dass Kanzlerin Merkel mit ihrer Griechenlandpolitik, die deutschen Interessen folgte, Erfolg hatte, und mit der Flüchtlingspolitik, in der sie europäisch dachte, an hartnäckigen Nationalismen scheitert. Natürlich rächen sich da Sünden der Vergangenheit. Als vor ein paar Jahren in Lampedusa Tausende Flüchtlinge strandeten, erklärte Merkels Innenminister volltönend, dies sei ein Problem Italiens. Man sieht sich immer zweimal.

Doch die kategorische Weigerung der rechten Regierungen in Budapest und Warschau, muslimische Flüchtlinge aufzunehmen, ist mehr als eine jener misslichen nationalen Beschränktheiten, die im Mahlstrom der Verhandlungs- und Vertagungsdiplomatie in Brüssel aufgelöst werden. Die Kampfrhetorik von Victor Orbán und Beata Szydło wirft eine existenzielle Frage auf: Kann die EU als postnationales Gebilde funktionieren, wenn ein Teil ihrer Mitglieder einen rüden nationalistischen Kurs einschlägt?

Die EU, nicht die Nationalstaaten, sollten die Kosten für die Flüchtlinge zahlen

Das Phänomen Orbán zeigt, dass die EU nicht mehr in jedem Fall Freiheit beflügelt. Früher gelang es Brüssel in den postdiktatorischen Gesellschaften Spaniens, Portugals und Griechenlands die Entwicklung zu Demokratie und Liberalität zu befördern. Warschau und Budapest zeigen, dass dieses Modell verschlissen ist. Damit droht der Einstieg in eine Logik der nationalen Regression.

Was da am Horizont aufzieht, ist eine Schreckensvision – ein zunehmend autoritär regiertes und aggressives Russland, der von endlosen Bürgerkriegen zerfetzte Nahe Osten. Und Europa, das sich abschottet und in dem wieder Stacheldraht die Staaten trennt.

Außerhalb Europas investieren

Um das zu verhindern, muss man größer denken. George Soros hat in der Süddeutschen einen klugen Vorschlag gemacht. Weil Europa nicht ignorieren kann, was in Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon und der Türkei passiert, muss Brüssel handeln. Handeln heißt, in großem Stil dort Geld investieren.

Und, über Soros hinaus: Die EU, nicht die Nationalstaaten, sollten die Kosten für die Flüchtlinge zahlen. Damit entsteht ein Anreizsystem, das womöglich auch ein Warschau zu einem Sinneswandel führt. Bezahlbar ist so ein zeitlich begrenzter Marshallplan für Flüchtlinge nur über massive neue Kredite. Schulden machen klingt nach Risiko. Aber damit es so bleibt wie es ist, muss die EU diesmal Neues wagen.

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Stefan Reinecke
Korrespondent Parlamentsbüro
Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.
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4 Kommentare

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  • Die EU soll Neues wagen, indem sie neue Schulden macht? Nein, neue Schulden zu machen ist nichts Neues. Eine ernsthafte Besteuerung der Vermögenden wäre etwas Neues und ist zwingend notwendig, wenn wir den Kollaps der EU vermeiden wollen. Die zusätzlichen Einnahmen aus Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Kapitalertragssteuer, einem höheren Spitzensteuersatz und evtl. Sondersteuern auf Luxusgüter sollten wir dringend in Flüchtlinge und Bildung investieren. Kostenlose und gute Bildung für alle gleicht die Chancen der Menschen innerhalb einer Gesellschaft aneinander an. Ohne sie können nur die reich Geborenen "es zu etwas bringen".

  • Welche Werte? Welche Gemeinschaft?

    Brexit und Grexit als europäische Unions-Politik empfinde ich als unlogisch wie "der Einstieg in eine Logik der nationalen Regression."

    Das ist keine Politik sondern Dada, ein Geplapper einer Kommission ohne Mandat. Zitat: Die Europäischen Union existiert in drei Aggregatzuständen – vor der Krise, in der Krise und nach der Krise. Meine Meinung als Ökonom:

    Wenn das Ergebnis zu einem Exportweltmeister auf Kosten der Anderen führt und die Armen irrational dafür sparen müssen kann das System nur scheitern. Gross-Britannien bleibt mit gutem Grund ausserhalb der Währungsunion des "Euro" damit deren Spekulationspotential erhalten bleibt. Das soll die "Marktkonforme Demokratie für wenige Reiche" erhalten? https://www.dropbox.com/s/jjn7i40yeyqgohq/Bildschirmfoto%202016-02-20%20um%2008.24.36.png?dl=0

    Uns kann nur die Lektüre des John M. Keynes (1936) helfen und aus den positiven Erfahrungen lernen, die wir damit nach dem Krieg gemacht haben: 2% Inflation über dem Bruttosozial Produkt. Das geht nur ohne die führenden Schwarzen Nullen in unserer Politik!

  • Ist wohl an der Zeit die besonders in rechten Kreisen beliebte Theorie der lokal ansässigen Völker/Rassen in Einzelteile zu zerlegen, so zäh und Don Quixote-artig das auch anmuten mag. Einer von vielen möglichen und vielleicht nötigen Schritten auf dem Weg in eine Welt, die der Globalisierung nicht mehr mit Furcht und Abgrenzung begegnet.

  • "Was da am Horizont aufzieht, ist eine Schreckensvision ..."

    Wer Visionen hat...Sie wissen schon. Und in diesem Fall nicht zu lange warten.

     

    "Weil Europa nicht ignorieren kann, was in Flüchtlingslagern in Jordanien, dem Libanon und der Türkei passiert, muss Brüssel [...] in großem Stil dort Geld investieren."

    Es reicht schon, den Zahlungsverpflichtungen gegenüber der UN nachzukommen. Wie wäre es denn, in menschenwürdige Flüchtlingsunterkünfte in Griechenland und auf dem Balkan zu investieren ?

     

    "Bezahlbar ist so ein zeitlich begrenzter Marshallplan für Flüchtlinge nur über massive neue Kredite."

    Och, wir hätten da auch noch die EU-Nettozahlungen an Polen und Ungarn (13,8 und 5,7 Milliarden in 2014). DAMIT "entsteht ein Anreizsystem, das womöglich auch in Warschau [und Budapest] zu einem Sinneswandel führt."