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Kommentar EU-Beitritt der TürkeiBrüsseler Produkte

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Noch nie sind die Werte, auf denen die EU angeblich basiert, in der Türkei so offensiv eingefordert worden wie jetzt. Es wäre Zeit gewesen, Flagge zu zeigen.

Flaggen überm Taksimplatz: Die EU und die Türkei Seite an Seite. Bild: reuters

D er Beschluss der EU zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist ein typisches Brüsseler Produkt: Man kann ihn interpretieren, wie man möchte, aber das Schlimmste – ein völliger Bruch mit der Türkei – wurde abgewendet. Während die türkische Regierung sagt, jawohl, Verhandlungskapitel wurde eröffnet, sagt Westerwelle, vor den Bundestagswahlen wird es keine Gespräche geben.

Das ist wie so oft eine Mogelpackung – aber keine aktive Außenpolitik. Dabei wäre jetzt, nach Jahren des Stillstands, der Zeitpunkt gewesen, Flagge zu zeigen.

Die halbe Türkei ist auf den Beinen, noch nie hat es am Bosporus eine Demokratiebewegung gegeben wie jetzt. Noch nie sind die Werte, auf denen die EU angeblich basiert, so offensiv eingefordert worden wie in den letzten drei Wochen. Aber ein echtes Bekenntnis der EU zu den Menschen, die für Demokratie und Freiheit auf die Straße gehen, blieb aus.

Bild: taz
Jürgen Gottschlich

ist Türkei-Korrespondent der taz.

Zwar gab es Kritik am autokratischen Ministerpräsidenten Erdogan und der Prügelpolitik seiner Regierung, doch die blieb weitgehend folgenlos. Drei Monate Verschiebung der Gespräche wegen Gezi-Park, schrieb die liberale türkische Zeitung Radikal; tatsächlich ist es nicht mal das. „Drei Monate Verschiebung wegen Bundestagswahl“, das wäre treffender gewesen.

Wenn die EU die Demokratiebewegung in der Türkei wirklich unterstützen wollte, dann müsste sie Erdogan und seine islamische AKP zwingen, Farbe zu bekennen. Nicht, indem sie die Eröffnung eines belanglosen Kapitels über Regionalpolitik in Aussicht stellt, sondern indem sie die türkische Regierung zwingt, beim Thema Meinungsfreiheit oder rechtsstaatlichen Verfahren in politischen Prozessen ihr Verhalten europäischen Normen anzupassen.

Das ginge natürlich nur, wenn man einen Beitritt der Türkei wirklich wollte.

Die türkische Protestbewegung hat die Unterstützung aus dem Ausland, von ausländischen Medien über prominente Einzelpersonen bis hin zu zivilgesellschaftlichen Kontakten, sehr begrüßt, gleichzeitig aber wenig auf die EU als Institution gesetzt. Weder in den allabendlich stattfindenden Bürgerforen noch in den sozialen Medien ist von der EU groß die Rede. Da von der EU nach dem Beschluss nichts zu erwarten ist, ist es umso wichtiger, dass wenigstens die europäische Zivilgesellschaft ihren FreundInnen in der Türkei zur Seite steht.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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14 Kommentare

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  • B
    bull

    Die Apeasement Politik der EU gegenüber der Türkei muss endlich aufhören.Erdogan und alle Ihn unterstützenden Gruppierungen auch die Milli görüs sind Islamfaschisten.Wehe der Welt wenn diese Islamfaschisten die türkische Armee unter Ihre Kontrolle bekommen.

  • A
    Africasian

    Mir kommen die Tränen: Dass das ganze Theater mit den Aufnahmeverhandlungen eine Mogelpackung ist, war doch von Anfang an klar. Ganz abgesehen davon, dass die Mehrheit in der Türkei inzwischen alles andere will, nur nicht diesem maroden gebrechlichen Verein namens EU beitreten (Es macht doch viel mehr Spaß der EU beim Untergang zuzusehen. Da habe ich sogar viele Freunde in Irland, UK, Griechenland, Spanien und Italien und anderswo auf meiner Seite)

     

    Ebenso klar ist, dass es den EU-Politikern niemals um Menschenrechte etc. Sülz ging bzw. geht sondern um kurzfristig Profit schlagen durch Waffenexporte, langfristig profitable Regionen (ehem. Osman Reich, Naher Osten, Afghanistan) destabilisieren und Aufteilen. So war das in und nach dem ersten Weltkrieg und so ist es noch heute.

     

    Ich spare mir hier die Beiträge von Was für ein Spiel? und Nezih Ünal zu unterstreichen. Die Heuchelei der EU stinkt mal wieder zum Himmel. Und wer da tatsächlich glaubt in Syrien, Afghanistan und sonstwo würden Demokratie und Menschenrechte verteidigt, dem empfehle ich die Lektüre von Peter Scholl-Latour: Die Welt aus den Fugen - wahrlich ein gutes Buch, auch wenn ich nicht mit Allem d'accord bin. Und noch was: Wer bitte gibt heute noch einen Heller auf die Meinung der EU (gähn)? Die weltweiten Machtverhältnisse sind inzwischen anders verteilt und der weiße Mann hat nichts mehr zu melden.

  • R
    Rosa

    Es ist hier von einer Demokratiebewegung nach europäischen Werten die Rede.

     

    Was gibt es aber für ein Demokratieverständnis in der EU, wenn über so ein wichtiges Thema wie

    den Türkei-Beitritt nicht die Bevölkerung per Referendum befragt wird?

     

    Wenn sich die EU-Bevölkerung bei Meinungsumfragen mehrheitlich gegen den Beitritt ausspricht,

    was soll das ganze dann noch mit Demokratie zu tun haben,

    wenn die Politiker die Mehrheitsmeinung nicht berücksichtigen?

     

    Und was soll man davon halten, daß der türkische EU-Minister Egemen Bagis Drohungen gegen Merkel ausspicht?

    Sie habe ihren Fehler (EU-Beitritt besser nicht) zu korrigieren sonst....

    Eine nette Kostprobe, wie die Türkei der EU auf der Nase rumtanzt wenn sie einmal drin wäre.

     

    Statt hier Rückgrat zu zeigen gegen diesen unverschämten Ton, hofiert Westerwelle die Türkei weiter auf der Schleimspur. Gruselig.

     

    Die Türkei gehört weder geographisch noch politisch noch kulturell zu Europa.

    Ebensogut könnte man auch Marokko aufnehmen.

  • KH
    Karin Haertel

    Die Tuerkei hat in der EU nichts zu suchen. Das waere ein Schlag ins Gesicht der Demokratie, Freiheit und Christentum. Das waere so - und unsere Regierung und die EU wuerden auch das tun - wuerde man Assad und somit Syrien in der EU aufnehmen.

  • WF
    Was für ein Spiel

    Wie war und ist die Rolle der USA bzgl. Türkei? Meine These: Zuerst: das British Empire hat vor, während und nach dem 1. Weltkrieg daran gearbeitet, das Osmanische Reich aufzulösen um in den Besitz der Länder zu kommen. Warum? Weil es da sehr viel Öl gab und gibt! Die Industrialisierung, zu der Zeit vorangetrieben, basiert auf dem Stoff. Öl=Reichtum. Das Osmanische Reich wäre heute eins der reichsten, wenn nicht das reichste Land der Erde. Aber die Osmanen blickten das damals nicht. Die Briten ließen sich überall Verträge ausschreiben, setzten Verwalter ein, teils für Jahrzehnte der Ölförderung. Immer mehr arbeiteten sie mit Amerika zusammen. Die bedeutenden Ölfirmen entstanden: heute BP, Shell, Texaco, Esso usw, (wo tankt ihr?), die aber auf die Gründungsväter zurückgehen: Standart Oil usw. Die Verwaltung der Öl-Gebiete bot Maximal-Gewinne. Es gibt viele Bücher darüber - selten im Buchhandel. In der Schule lernt man "ja, also das British Empire, die hatten halt so ein paar Kolonien und wow, die haben eine Queen". Jetzt zu heute: Es gab immer Versuche der Länder in diesem Raum selbstständiger zu werden und nicht mehr so viel Gewinne an die Jungs von BP usw. abzugeben - wie Iran usw. Ein starkes Interesse besteht, diesen Raum, den gesamten Mittleren Osten zu besitzen. Ihr wisst ja, wegen "Demokratie" und "Menschenrechten",oder?, hier ein Video:

     

    http://www.youtube.com/watch?v=OxqgtTdjFBs

     

    Das "Greater Middle East Project" ist keine dumme Verschwörung. Es ist ein Plan, den Mr. W. Bush offiziell verkündete, aber seit Ewigzeiten in der Region verfolgt wird. Ihr findet viele Informationen dazu im Netz. Menschenrechte? Seit Jahrzehnten werden die Länder mit Krieg und Terror überzogen. Aufstände herbeigeführt usw., mit Geld und Waffen. Jetzt versteht ihr, warum die Armee in der Türkei sehr wichtig war und ist. Sie schützt das türkische Volk vor den Eindringlingen, die immer versuchen, auch die Türkei in Besitz zu nehmen. Erdogan aber hat kritische Militärs entlassen, inhaftiert, wie alle Kritiker. Danke EU, für die Unterstützung der demokratischen Reformen, siehe Leserbriefe vorher!!!

    Seit Reform 2010 ist das Militär in Rechten beschnitten und kann seine Bürger nicht mehr vor diesen Unterwanderungsversuchen schützen! Erdogan wurde wohl ein Leadership unter türkischer Flagge von den US-Boys in der Region angeboten, "moderner Islam". Assad weiß um was es geht. Sein Land war Angriff vieler Attacken und geschürter Aufstände. Deswegen dürfen jetzt Fundamentalisten auf ihn schießen, nicht dass sich Hr. Obama die Finger schmutzig macht. Eine türkische Invasion über Nato war wohl geplant, ein Kurdenstaat. Kurdenthema wäre ein eigener Leserbrief, die Ganze Sache hängt damit zusammen!Bitte, seht den Wald vor lauter Bäumen!!!

  • J
    jochen

    Wenn also Steinewürfe, Schlagstockattacken

    auf Polizisten und die Drohung die Polizei

    mit Lasern zu erblinden Ihre Vorstellung

    von offensiver Verteidigung der Demokratie

    sind, dann hat Herr Gottschlich sicherlich Recht.

     

     

    Die Art der Auseinandersetzung, wie sie von Polizei

    und Demonstranten geführt wurde, erinnerte

    zu sehr an den Auftakt der Aufstände von Syrien.

    Das war eben keine demokratische Veranstaltung mehr,

    sondern Aug um Aug, Zahn um Zahn.

     

    Die Demonstranten hatten das Recht zu demonstrieren,

    zu protestieren, in den Medien, inklusive

    Internet massiv ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen,

    durften aber keine Putsche anzetteln, weil

    gerade Umstürze und Putsche neue Aggressoren

    und Unrechtsregime an die Macht spülen.

     

    Deshalb ist die Demonstration am Taksim-Platz

    eher ein Fehlschlag gewesen, auch wenn die

    Presse hier eine Heldenstory fabrizieren will.

     

    Natürlich wird es Kräfte im justiziarischen,

    polizeilich-politischen Filz geben, die Notstände

    zur Schaffung von Notstandsgesetzen wollen.

    Natürlich wird es Leute geben, die Bürgerrechtsgruppen

    infiltrieren, aufwiegeln und niederknüppeln wollen.

    Deshalb braucht die Gemeinde klare Regeln, die lauten:

    - Schutzausrüstung ist oberste Pflicht

    - keine Gewalt gegen den Staat

    - lieber häufig und zahlreiche, politische

    Aktionen machen, die sich rechtzeitig auflösen,

    als verlustreiche Straßenschlachten

    - explizite Einbeziehung der Presse und internationalen Institutionen

    - Aufbau von rotierenden Führungszirkeln, die

    öffentliche Macht ausüben und Wahlkreise gewinnen sollen --> Integration in das Wahlparteiensystem

    - Stellungnahme zu EU-Beitritt der Türkei

    unter Führung Erdogans

    - KEINE DESTABILISIERUNG des Staates anstreben

    - Informationen zu Verbrechen der Partei Erdogans

    sammeln

    - politische Basisarbeit in Kommunen aufnehmen

    und zukünftige Wähler von der eigenen Qualität

    überzeugen

    - konsequente Arbeit an der beruflichen Karriere,

    um dann auch politisch und gewaltmäßig

    Macht auszuüben

    - Sammlung von SympathisantInnen

    ------------------------------------------------

     

    In einer Demokratie löst Gewalt rein gar nichts

    und spielt nur den Gegnern in die Hände!!!

  • WF
    Was für ein Spiel?

    Die nächste Überlegung ist: Was hat Frau Merkel und die in der EU mächtige CDU/CSU in der ganzen Geschichte für eine Rolle gepielt? Meine These: Ich erinnere mich und ihr doch sicher auch, die CDU/CSU fuhr immer einen Kurs, die Türkei nicht in die EU aufnehmen zu wollen. Eine "priveligierte Partnerschaft" war angestrebt. Grund: Islam passt nicht zu Europa. Nun hat aber Frau Merkel und die EU den "Meister" Erdogan mit seiner Frau im Kopftuch immer dabei unterstützt, die säkulare türkische Gesellschaft zu islamisieren. Man gibt sich konservativ, immer bei den "Kirchen", hier "christlich", dort eben "islamisch", also die AKP und Erdogan. Und immer wieder fordert und födert man "demokratische" Reformen in der Türkei. Erdogan reagiert mit undemokratischen Reformen, will Befugnisse über die Richterwahl usw., Reform 2010, will Befugnisse über die Familiengestaltung (gescheitert). Siehe Leserbrief vorher. Aber er arbeitet konsequent daran, die ehemals demokratische Verfassung weiter auszuhöhlen. Und die EU begrüßt das, gibt ihm Rückenwind. Stellt das als positiven Schritt in Richtung EU dar. Lässt Medien darüber berichten usw., die das Lied mitsingen. Klappt noch nicht mit Beitritt Erdogan, vielleicht nächstes Mal, mach uns erst eine weiterr "demokratische" Verfassungsreform - derzeit (seit 2011) im Gespräch in Türkei, stößt auf Widerstand, was, nein, es geht um Bäumle, die Proteste mitbewirkte. Derweil schürte man hier in den Medien, vor allem den bebilderten, Sie wissen was ich meine, die Angst vor dem Islam. Ja überall sitzen die bösen Terroristen, der Krieg gegen den Terror, die Islamisten, die überall auf der Welt die USA bedrohen. Und in Deutschland hat man quasi ein Nest von diesen Islamisten. Jetzt nicht auch noch in der EU. Und vor allem: wir sind doch "christlich-liberal", was soll denn da der Vatikan sagen? Also nein, da müssen wir was machen... Und Erdogan spielte mit. Da tönt Erdogan dann in der Türkei: "die, die EU, die Arroganten, wollen uns nicht, pah, wir Türken haben das nicht nötig, schau an was ich geleistet habe, was wir leisteten, euch, uns geht es gut, dann lassen wir das halt". "Wir Osmanen und die, das passt eben nicht". Also Deutsche, keine Angst: EU und Erdogan arbeiten, meiner Meinung nach, seit Jahren an einem Nichtbeitritt zusammen. Und Frau Merkel war das Blashorn. Blashorn, hi,hi, o shit.

  • N
    Nezih Ünal

    Heuchlerisch von allen Seiten:

     

    Die EU "lässt die Tür für die Türkei offen" obwohl offensichtlich keiner der beide an ernsthaften Verhandlungen interessiert ist. Regierungen von entscheidenden Ländern wie Deutschland, Österreich, Niederlande bringen das klar zum Ausdruck, andere bleiben lieber im Hintergrund.

     

    Die Türkei "lässt die Tür offen" obwohl sie offensichtlich auch an ernsthaften Verhandlungen nicht interessiert ist. Sonst ist nicht zu erklären, warum Regierungschef, Außen- und weitere Minister kurz vor dieser Entscheidung mehrfach öffentlich kundtun, dass sie die Entscheidungen des EU Parlaments für null und nichtig ansehen. Es gab bisher keine öffentliche Distanzierung von diesen Aussagen.

     

    Beide Seiten wissen, dass es nicht um ernsthafte Beitrittsverhandlungen geht. Beide Seiten profitieren von der "offenen Tür":

    - EU ist ein guter Zugang in den stark wachsenden türkischen Markt interessant

    - Die Türkei ist zur Finanzierung des Wachstums von Kapitalzufluss von Außen abhängig, und das funktioniert nur mit einer EU-Perspektive

    - EU will die Türkei als machtpolitischen Einflussfaktor im Nahen Osten auf seiner Seite

    - Die Türkei will sich im Nahen Osten als Brücke zu Europa machtpolitisch positionieren

     

    Solange die Tür offen bleibt, ist es zumindest wirtschaftlich eine Win-Win Situation und nur darum geht es im Kern. Die politischen Visionen von EU und dem türkischen Regime klaffen schon seit über 10 Jahren meilenweit auseinander.

     

    Das Bild nach Außen, dass die EU Tür jetzt aus Solidarität zu den jungen protestierenden Menschen vom Taksimplatz in Istanbul offen bleibt, mag in manchen intellektuellen und politischen Kreisen ein "schönes Gefühl" geben. In Wahrheit ist diese Entscheidung gegen die Menschen auf der Straße und stärkt die bestehende Regime in der Türkei.

     

    Wenn es wirklich um mehr Freiheit, Demokratie und Bürgerrechte in der Türkei gegangen wäre, hätte man den Beitrittsprozess einfrieren müssen, bis sich der Ministerpräsident und alle Minister öffentlich von ihren eigenen Aussagen und ihrer Einschätzungen zu den Ereignisse distanzieren, sich bereit erklären den entsprechenden EU Beschluss ernst zu nehmen und unverzüglich eine Änderung ihrer Politik gegenüber Andersdenkenden einzuleiten.

     

    Wenn die "Tür offen bleibt" obwohl der Ministerpräsident weiterhin auf öffentlichen Wahlveranstaltungen vor laufender Kamera "äußere Mächte", insbesondere die EU bezichtigt, den "terroristischen Aufstand" gegen ihn angezettelt zu haben, die Millionen überwiegend friedlichen Menschen auf den Straßen als von außen gesteuerte Terroristen und Wandalen bezeichnet, die freie Berichterstattung im Ausland, und die sozialen Medien als "Bündnis des Bösen" beschimpft und bedroht, dann hat dies nichts mit der Solidarität oder Unterstützung des Demokratiebewegung zu tun. Es stützt vielmehr das Regime, das unter Druck geraten ist, weil mit den Unruhen und dem Risiko des Wegfalls der EU-Option das "heiße" Kapital aus der Türkei abzieht, wovon ein wesentlicher Teil aus der EU ist.

     

    Offensichtlich wollte am Ende keiner das leichte Geld auf dem türkischen Kapitalmarkt riskieren. Der türkische Aktienindex hat sich in den letzten 10 Jahren fast verzehnfacht. Das positive wirtschaftliche Entwicklung wurde in weiten Teilen mit dem "heißem" Kapital finanziert. Mit den Unruhen und dem Risiko, das die EU Tür zugeht, ist der türkische Aktienindex in den letzten Wochen um über 20% eingesackt, mit dem Risiko zu kollabieren und das ohne Europäischen Rettungsschirm.

     

    Mit dieser Entscheidung geht das gleiche heuchlerische Spiel weiter. Die wirklichen Gewinner dabei sind die wirtschaftlichen Interessen und Finanzjongleure. Es ist nicht umsonst, dass sich Westerwelle so ins Zeug gelegt hat, um eine Lösung zu finden, dass Angela Merkel im Wahlkampf nicht weh tut und gleichzeitig auch seine Klientel zufrieden stellt. Für die Menschen auf Taksim wäre eine Entscheidung, bei der Erdogan und die EU öffentlich Farbe bekennen muss, sicher sinnvoller gewesen, so oder so.

     

    Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen, dass die EU Beitrittsverhandlungen der Türkei in Sachen Demokratie nicht viel gebracht hat. Die jüngsten Reaktionen des Staates auf freie Meinungsäußerung, die stattlich Kontrolle der inländischen Medien und Berichterstattung, totalitäre Haltung des Ministerpräsidenten, Druck, Drohungen und Verfolgung in weite Bereiche der Gesellschaft sind nicht von heute auf morgen gekommen, sondern ein Resultat der Entwicklungen in den letzten 10 Jahren. Diese Entwicklungen haben stattgefunden, obwohl die EU Tür offen war. Die Entwicklungen sehend hat die EU „die Tür offen gelassen“. Die Entscheidung die Tür offenzuhalten wird an der Entwicklung kaum etwas ändern, solange die Verhandlungen nicht wirklich von beiden Seiten ernst gemeint sind. Die "Verschiebung" der Verhandlungen um 3 Monate ist nur ein Feigenblatt für die EU, insbesondere für Angela Merkel.

     

    Nicht wegen, sondern trotz der EU wird die junge Bewegung in der Türkei sicher weitergehen und ihren eigenen Weg zu mehr Würde, Freiheit und Demokratie finden. Wenn die EU bei dieser neuen jungen türkische Generation eine positive Perspektive sein möchte, müsste sie einen EHRLICHE Politik gegenüber der Türkei praktizieren. Diese junge Generation ist sehr wohl in der Lage die Heuchelei zu durchschauen. Die Fortführung der bisherigen heuchlerischen Politik wird sicher keine Sympathien fördern.

  • ES
    Ein Spiel?

    Danke Hr. Gottschlich, für Ihr Statement. Ich bitte die Taz, die Links zuzulassen und darum, den langen Leserbrief zu veröffentlichen. Danke!

     

    Nun ein Versuch meine Sicht darzustellen. Die EU verhält sich gegenüber der Türkei seit langer Zeit sehr seltsam und förderte Erdogan dabei, den Staat von einer demokratischen Verfassung ausgehend immer undemokratischer zu gestalten. Ich empfehle die Lektüre des folgenden Artikels, der das Dilemma der Verfassungsänderung von 2010 sehr gut aufzeigt:

     

    http://news.politopia.de/verfassungsanderung-in-der-turkei-%E2%80%93-einige-anmerkungen/

     

    Die EU gratulierte Erdogan per Pressemitteilungen und Medien auch in Deutschland für seine angebliche Demokratisierung der Türkei auf dem Weg in die EU (Google viele mehr):

     

    http://www.euractiv.de/wahlen-und-macht/artikel/trken-stimmen-fr-verfassungsreform-003630

     

    In der EU wird gesagt, Erdogan mache die Türkei demokratischer, seit 2012 will er eine weitere Verfassungsänderung durchsetzen, den Frauen sogar vorschreiben, mindestens 3 Kinder kriegen zu müssen, was er aufgrund Proteste zurücknahm:

     

    http://www.deutsch-tuerkische-nachrichten.de/2012/08/457498/neue-verfassung-akp-streicht-passage-ueber-familienplanung/

     

    Aber schon 2011 gratulierte die EU Erdogan zum Wahlsieg und unterstützte ihn bei den "Reformen". Hier auch ein Gruß dabei von Frau Merkel. Und schaut mal auf Erdogans Frau rechts oben auf dem Bild. Wie oft habt ihr in der Türkei bei Aufständischen solche Frauen gesehen?:

     

    http://www.euractiv.de/druck-version/artikel/eu-wuensche-an-die-tuerkei-nach-wahlsieg-erdogans-004954

     

    Jetzt fragt euch, was ist das für ein Spiel zwischen EU und Türkei? Gefordert und gefördert werden demokratische Reformen, mit dem Ergebnis einer demokratischen Aushöhlung und Gratulationen der EU an Erdogan für seine "Demokratisierung".

     

    Soll und sollte bewusst ein Grund produziert werden, die Türkei eben nicht in die EU zu nehmen, da der Staat jetzt eher einer demokratisch islamischen Diktatur ähnelt?

  • A
    AlecLeFag

    Eins vorweg, bitte. Ich bin traditionell gegen einen Beitritt der Türkei zur EU. Den grundsätzlichen Tenor des Artikels begrüße ich aber. Das der Wunsch nach Fortschritt (zugegebener Maßen ein weiter Begriff) aus der Mitte der türkischen Gesellschaft heraus erwächst, das ist zumindest ist eine Hoffnung, die sich aus den Protesten 2013(!) erschließen lässt. Das wiederum bringt ein Bild der Türkei in die Welt, dass in den Mainstream-Medien (?) nicht zwingend gefördert wird. Istanbul ist eine europäische Metropole, soviel scheint klar. Wie repräsentativ das für die Türkei als Ganzes ist, mag von hier aus zweifelhaft bleiben oder auch nicht. Nur für mich als Skeptiker eines EU-Beitrittes der Türkei (und der bin ich schon noch)waren diese Proteste das stärkste Argument dafür, dass ich falsch liegen mag mit meiner Skepsis. So wie es hier bei mir ankam, waren diese Proteste eine große Inspiration in Bezug auf Solidarität, Toleranz, Leidenschaft, Diversität und den Wunsch nach Freiheit.

     

    Cheers und Danke, dass man bei der taz ohne Registrierung seinen biosenf dazugeben darf.

  • AU
    Andreas Urstadt

    Es ist ne seltsame Konstellation, wenn ein Ministerpraesident eines Staates Bezirksbuergermeister einer Stadt spielt. Das ist eine Sonderkonstellation und vergroessert Machtgefaelle. Stuttgart 21 ist sehr wohl vergleichbar und Merkel haette so agieren lassen wie in Stuttgart passiert. Es passierte dort aber nur auf Landesebene. Die Platzbebauung usw ist Kommunal u Lokalpolitik. Massenweise fangen sich Kommunalpolitiker in Deutschland Anzeigen ein und zu Recht. Die ganze Sache in der Tuerkei wird hochgehypt. Der erste Hyper ist Erdogan selbst. Der Gegenstand ist ein Kommunalthema und auf der Ebene hagelt es in Deutschland zu Recht Anzeigen gegen Kommunalpolitiker, die nicht mal skandalisiert werden. Die Leute bleiben dazu einfach im Amt. Kein Protest, nichts. So gesehen koennte man sogar sagen, es fehlt hier was.

     

    Erdogan verhaelt sich unproportional, naemlich wie ein kleiner Bezirksbuergermeister mit der Macht eines Staatschefs und trifft auf die GluehbirnenregelungenEU. Die passen doch gut zusammen.

     

    Wer in der Tuerkei protestiert muss sich von hier aus vorkommen auf einmal im Wald zu stehen. Da baut sich ein Gegner auf, der nicht weiss, welche Position er eigentlich usurpiert. Der Bezirksbuergermeister den Staatschef oder der Staatschef den Bezirksbuergermeister. Es ist eigentlich ein skandalisierter und hochgehypter Kommunalkonflikt. Mit viel Reinleserei. U a Terrorismus, von jemandem, der nicht mehr weiss, welches Amt er ueberhaupt ausuebt. Im Zweifelsfall das, wofuer er gewaehlt wurde. Dann muesste nicht die EU Erdogan in den Hintern treten, aber der Bezirksbuergermeister des Stadtviertels. Besteht da Gleichschaltung oder gibt s die Ebene gar nicht. Erdogan hat alle Ebenen nach Bedarf kurzgeschlossen. Der ist bei den EUGluehlampen richtig. Die Antwort waere: Austauschen.

  • F
    fightingforpeace

    Die EU soll der Türkei helfen, den Weg zu Demokratie und Bürgernähe zu finden?

     

    TAZ, wär es nicht mal an der Zeit, die ideologischen Scheuklappen abzulegen? Alle EU-Bürger können und werden von den jetzt demonstrierenden Türken etwas lernen. Die "Werte" der EU sind Bürokratie, Ideologie und Status Quo, die haben durchaus etwas mit Erdogan gemeinsam.

     

    Während Westerwelle&co noch Erdogan hofieren, haben EU-Bürger in Köln und anderswo bereits klar Flagge gezeigt.

     

    Ich kann nicht vorhersehen, wann der Funke überspringt, aber eines Tages werden sich auch die EU-Bürger gegen ihre Erdoganesken Herrscher erheben.

  • I
    Irmi

    Die haben dort die Demos doch nicht gemacht um in die EU zu kommen, was ist das für ein Quatsch. Sondern weil sie gemerkt haben wie sich ihr geliebter Erdogan verändert, sie in allem einschränkt werden und der sogar die Kopftücher will.

     

    So wie dieser Erdogan ist, will keiner die Türkei in der EU, fertig.

     

    Da muss jetzt wieder Überzeugungsarbeit geleistet werden, warum es gut wäre, das die Türkei in der EU eingegliedert wird.

     

    Tut doch jetzt nicht schon wieder so, als wäre Deutschland schuld, das die Türkei nicht in der EU ist. Was hat denn der Erdogan gemacht, das er es sich verdient hätte ? Jetzt wenigstens hat man sein wahres Gesicht gesehen.

  • TG
    The grimreaper

    Diese Proteste sind nicht Ausdruck einer Freiheitsbewegung oder der Wunsch nach mehr Demokratie sondern der Versuch von wenigen das Land soweit zu destabilisieren das das Militär einmal mehr putscht. Das ist bereits 4 mal geschehen und das war auch hier wieder der Fall. Das ist nicht etwa sache der Regierung sondern dem Mangel an einer wirklichen Oppositionspartei geschuldet. Die Demonstranten sehen lediglich eine CHP die wenig überzeugende und wirkungsvolle Politik betreibt und damit kommt natürlich die Einsicht dass man auf demokratische Art und Weise nicht an die Macht kommen wird. Viele sagen nun die Regierung müsse auf die Wünsche des Rests der Bevölkerung eingehen. Das ist richtig. Aber genauso richtig ist auch das die Opposition auf die Menschen die die AKP gewählt haben zugehen muss. Tut Sie ABER NICHT.