Kommentar Brexit: Ein Land ohne Liebe

Manch EU-freundlicher Brite begegnet dem Brexit-Blues mit Nachrichtenvermeidung. Andere treibt er zum Brexit-Heiratsantrag.

Ein mit UK-Flagge bemaltes Gedicht küsst ein mit EU-Flagge bemaltes Gesicht

Was soll nur aus diesem Land werden, wenn ihm nun auch die Singles abhandenkommen? Foto: ap

Manche Menschen treibt der Brexit in den Wahnsinn. Mich hätte er fast ins Standesamt bekommen.

Vor ein paar Monaten erhielt ich nämlich ein mittelmoralisches Angebot von einem britischen Freund: Er brauche mich eventuell für eine Notfall-Hochzeit, sagte der Mann, den ich hier zur Wahrung seiner Anonymität Duncan nennen will. Aha. Erst die deutsche Staatsbürgerschaft, vielleicht stellt sich die Liebe ja später ein?

Eigentlich keine schlechte Sache, befand ich für einen Moment. Duncan und ich teilen denselben Beruf und ein Interesse an schlechten Wortspielen. Wir lieben beide Hunde und Roadtrips – ich meine, es hat schon Paare mit weniger Gemeinsamkeiten gegeben. Einem Anlass zum Feiern bin ich nicht abgeneigt, Duncan sieht in einem Tweed-Anzug hinreißend aus und überhaupt: Sollte man einem Freund nicht aushelfen?

Der Brexit-Blues hat den EU-freundlichen Duncan nämlich schon länger in seinen Klauen und mit ihm viele seiner ähnlich gesinnten Landsleute. Acht Tage nach dem ursprünglichen Datum zum Austritt aus der Europäischen Union wissen sie immer noch nicht, wann, wie und – darf man wagen, es zu schreiben? – gar ob Großbritannien Brüssel überhaupt so bald Goodbye sagen wird.

Tinder schien eine einleuchtende Option

Kein Wunder also, wenn BritInnen nun nicht mehr nur mit Nachrichtenvermeidung und Eskapismus im Pub versuchen, der ganzen Brit-Bredouille zu entkommen. Zusätzlich zum Brexit-Heiratsantrag begab es sich nämlich, dass ich durch die Dating-App Tinder einer von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbemerkten Flüchtlingskrise auf dem Berliner Singlemarkt gewahr wurde: dem Schicksal der Brexit-Refugees.

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Der Algorithmus spülte mir und meinem Swipe-Daumen gleich mehrere BritInnen auf den Bildschirm. „Musste dem Brexit entkommen, Tinder schien eine einleuchtende Option“, hatte einer sich lakonisch ins Profil geschrieben. Ein Pärchen suchte gleich zu zweit eine angemessene Ablenkung vom britischen Schlamassel in Berlin.

Ein anderer servierte den geneigten Betrachterinnen den Titel „Brexit-Flüchtling“ direkt unter einer Größen- und Gewichtsangabe. Wir schrieben hin und her, sprachen über die Kreativität britischer Schimpfwörter und planten einen kleinen Ausflug ins Grüne, aus dem dann nie was wurde. Ich weiß schon nicht mehr, warum ich gerade dieses Match auflöste – too many boys, too little time wahrscheinlich (das wollte ich schon immer mal öffentlich von meinem Leben behaupten). So ist das mit der Liebe in Zeiten von Tinder.

In Zeiten des Brexits scheint es in Großbritannien hingegen mit der Liebe nicht so weit her zu sein – doch kümmert das wohl zu wenig. Bei all den Katastrophennachrichten rund um die Folgen des Austritts war zwar immer wieder die Rede vom befürchteten „Brain Drain“ – dem Abwandern von AkademikerInnen. Über den „Love Drain“ hat sich aber noch niemand Gedanken gemacht. Was soll nur aus diesem Land werden, wenn ihm nun auch die Singles abhandenkommen?

„Blobby blobby blobby“

Verständnis für Fluchtgedanken anlässlich des Schlamassels in Westminster habe ich ja. Tatsächlich würde ich selbst manchmal gerne aus der Redaktionskonferenz flüchten, wo ich bei Nachfragen, was denn nun der wahrscheinlichste nächste Schritt in Sachen Brexit sei, nur mehr die Schultern zucken kann und „Da müssen wir abwarten, aber wir haben das auf dem Schirm“ murmele.

Der britische Finanzminister Philip Hammond hat sich zuversichtlich zu den Gesprächen mit der Opposition über einen Ausweg aus der Brexit-Sackgasse gezeigt. Die Diskussionen mit der Labour-Partei würden weitergehen, sagte er am Samstag beim Treffen der EU-Finanzminister in Bukarest. „Ich bin optimistisch, dass wir irgendeine Art von Übereinkunft erreichen werden.“ Der Ansatz der Regierung sei, ohne rote Linien und unvoreingenommen in die Gespräche zu gehen.

Die britische Premierministerin Theresa May hatte sich Anfang der Woche an die Opposition gewandt und Kompromisse bei ihrem bereits drei Mal vom Parlament abgelehnten Brexit-Deal über einen EU-Austritt des Vereinigten Königreiches angeboten. Der besteht aus dem Vertrag über den Austritt sowie einem Dokument über die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU. Änderungen am Vertragstext schließt Brüssel aus. Anders ist das bei der Politischen Erklärung.

Ein klarer Plan, wie es weitergehen soll, gilt als Voraussetzung für eine Zustimmung der EU-Staats- und Regierungschefs zu einer Verlängerung der Brexit-Frist, die sonst am 12. April abläuft. May beantragte in einem Schreiben an EU-Ratschef Donald Tusk einen Aufschub bis zum 30. Juni. Tusk plädierte dagegen für eine flexible Verlängerung der Austrittsfrist um bis zu zwölf Monate. Die Entscheidung soll beim EU-Sondergipfel am Mittwoch in Brüssel fallen. (dpa)

Ich denke dann oft an den Politikkorrespondenten Chris Mason, der im November im BBC-Frühstücksfernsehen resigniert sagte: „Um ehrlich zu sein, wenn ich jetzt auf die Geschehnisse blicke, habe ich nicht die blasseste Ahnung, was in den nächsten Wochen passieren wird.“ Die Analyse könne er genauso Mr Blobby überlassen – einer überlebensgroßen rosa Kunstfigur, die alles umschmeißt und dabei nur „Blobby Blobby Blobby“ vor sich hin brabbelt. Die Anteilnahme für Brexit-ExilantInnen ist also vorhanden – aber ich kann ja nicht alle trösten!

Düster dürfte es aber nicht nur wegen der Abwanderung von JunggesellInnen aus dem Königreich aussehen. Was, wenn das Referendum auch die ein oder andere Liebesbeziehung im Land killt? Das Brexit-Referendum, bei dem 52 Prozent für den Abschied von Brüssel stimmten, hat 2016 die britische Gesellschaft gespalten – das ist heute fast eine Binsenweisheit. Nicht selten dürfte es auch Paaren so ergangen sein, wenn der eine Teil mit Leave, der andere aber mit ­Remain votiert hat. Herrlich lässt es sich über Politik verkrachen, ganze Familienfeiern lassen sich so sprengen.

Was, wenn der eine Teil des Paares froh ist über die Trennung von der EU, der andere Teil aber handfeste Nachteile davonträgt – weil er oder sie nicht die britische Staatsbürgerschaft hat und sich plötzlich mit Fragen zum eigenen Bleiberecht auseinandersetzen muss oder der Job nun in Gefahr ist? Wer wollte mit dem oder der Leave-WählerIn dann noch die Bettdecke teilen?

„Europa, lass uns unsere Liebesgeschichte fortsetzen!“

Man muss nicht einmal mutmaßen. Der Jurist Nigel Shepherd kann es bestätigen. Ein paar Monate nach dem Referendum erzählte der damalige Vorsitzende des Verbandes für Familienrecht „Resolution“ dem Guardian von ersten Brexit-Scheidungen. Unterschiedliche Meinungen dazu seien vermutlich nicht der einzige Grund gewesen, so Shepherd, „aber wir haben von einer Reihe unserer Mitglieder von Fällen gehört. Es war eine wirklich spaltende Kampagne. Es hat einigen Paaren den Rest gegeben. Es war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und sie dazu brachte, zu denken: ‚Wir sind wirklich inkompatibel.‘“

Es wäre natürlich schlau gewesen, schon vor dem Schritt zum Traualtar auch politische Streitpunkte zu klären. Es soll ja Eheverträge mit allerhand bizarren Verhaltensregeln für die Beziehung geben. Ob es bereits solche Dokumente mit dem Unterpunkt „Referendum“ nebst Wahlempfehlung im Falle einer solchen Volksabstimmung gibt? Zweifelhaft.

Ganz Großbritannien ist also vom „Love Drain“ betroffen. Ganz Großbritannien? Nein! Ein von unbeugsamen SeparatistInnen bevölkerter Landesteil hört nicht auf, dem Liebesentzug Widerstand zu leisten. Schottlands Regierungspartei Scottish National Party will der britischen Regierung in Westminster schon lange entkommen und den Landesteil in die Unabhängigkeit führen. Da sich beim Brexit-Referendum die Mehrheit der SchottInnen gegen den Austritt aus der EU ausgesprochen hat, sieht sie sich im Recht, noch mal über eine Abspaltung vom Vereinigten Königreich abzustimmen.

Deshalb schmieren die SchottInnen der EU schon mal ordentlich Honig um das Mäulchen: Als Werbung für Land und Leute verbreitet eine unter anderem von der schottischen Regierung und der nationalen Tourismusorganisation erdachte Kampagne derzeit ein Video, in dem ein schottischer Adonis allein am wolkenverhangenen Strand steht und zu getragenem Klaviergeklimper Aspartam-süße Botschaften gen Europa ruft: „Unser schönes Land ist offen für euch.“ Zoom auf blaue Augen: „Unsere Arme sind offen.“ Das unfreiwillig komische Video schließt mit „Europa, lass uns unsere Liebesgeschichte fortsetzen!“ Ich muss bei meinem Aufenthalt in Schottland an den falschen Stränden gewesen sein. Nicht ein einziges Mal traf ich dort auf Schmeicheleien rufende, einsame Hünen.

Mit dem „Love Train“ lässt sich der „Love Drain“ regeln

Meine Empfehlung: Wenn es im Norden des ­Königreiches Liebesüberschuss gibt, sollten sich die SchottInnen womöglich auf Reise in den Süden machen. Das Lied „Love Train“ von den O’Jays gäbe das Programm vor: „The next stop that we make will be England.“ Mit dem „Love Train“ lässt sich der „Love Drain“ doch wohl untereinander ­regeln?!

Vielleicht auch für Duncan, denn dem habe ich durch diesen Text die Hoffnung auf eine gepflegte Scheinehe vermasselt. Aber immerhin schrieb ich mit seiner Einwilligung. Er hatte dafür nur einen Wunsch: „Just make me sound handsome, okay?“

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*1985, seit November 2017 Redakteurin für europäische und globale Politik im taz-Auslandsressort. Hat seit 2014 immer mal wieder für die taz gearbeitet, meistens für das Ressort Wirtschaft und Umwelt, und schreibt gern über die EU und über Entwicklungspolitik.

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