Kommentar Bildungsproteste: Von Eltern und Studenten
Es ist eine deutsche Eigenart, sich in romantische Konzepte zu flüchten – und das undemokratische Bildungssystem real nicht anzutasten.
B ildung rockt Deutschland. In den Uni-Städten gehen Zehntausende Studierende gegen den Bachelor auf die Straße. In Hamburg unterschreiben sagenhafte 180.000 Bürger gegen die Schulreform. Haben die Bewegungen etwas miteinander zu tun?
Ja, es gibt eine unbequeme Gemeinsamkeit. Denn sowohl die wohlhabenden Eltern als auch die Studierenden ("Reiche Eltern für alle") verfolgen nicht nur rationale Ziele. Sie wenden sich nämlich gegen Reformen, die längst überfällig sind: Reformen, die mit Bildungskonzepten des 19. Jahrhunderts aufräumen. Der Bachelor verabschiedet sich von der Vorstellung, dass alle, die an die Uni gehen, Professor werden wollten oder sollten. Daher ist es richtig, das Studium zu portionieren und studierbar zu machen.
Die Hamburger Schulreform will mit der Tradition brechen, dass es schon in der frühen Bildungskarriere ein Oben und ein Unten geben soll. Ab der vierten Klasse Kinder zu trennen, ist ein deutscher Sonderweg. Er widerspricht der Offenheit jedes Kindes für Entwicklungsprozesse. Daher ist es richtig, die Grundschulzeit auf sechs Jahre zu verlängern, so wie es bereits 1919 (!) geplant war.
Das Problem ist, dass beide Reformen zu spät kommen. Die Proteste sind daher Ausdruck einer echten Bildungskrise. Es geht ja tatsächlich drunter und drüber an den Unis. Und auch die Schulreform an der Elbe verunsichert Menschen.
Die Protestierer aber operieren mit einem hochfahrenden Bildungsbegriff, der noch von Humboldt stammt. Er lautet: Bildung muss zweckfrei sein und ausschließlich der Persönlichkeitsentwicklung dienen. Es ist eine deutsche Eigenart, sich in romantische Konzepte zu flüchten - und das undemokratische Bildungssystem real nicht anzutasten.
Mit einer solchen Flucht in die Eigentlichkeit ist es diesmal nicht getan. Die Unis müssen geöffnet werden für breitere Schichten - da kommt ein studierbarer Bachelor gerade recht. Also sollten jetzt sofort Runde Tische an den Hochschulen entstehen, die - zusammen mit den Studis! - die Studiengänge entschlacken.
Anders bei den Hamburger Eltern, die gegen die sechsjährige Grundschule kämpfen: Für sie sollte man keine runden Tische einrichten. Man muss sie aufklären. Man muss ihnen zeigen, dass ihre Kinder selbstverständlich bis zur sechsten Klasse (und länger) gemeinsam lernen können, ohne Schaden zu nehmen - im Gegenteil.
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