Kommentar Beschneidung: Alarmzeichen für die Demokratie
300 Juden und einige Muslime demonstrieren im Zentrum Berlins gegen ein Verbot der Beschneidung. Wann hat es so etwas schon mal gegeben?
W enn 300 Menschen in Berlin eine Demonstration veranstalten, dann ist das üblicherweise eine Kurzmeldung in den Lokalnachrichten wert. Wenn aber 300 Juden und einige Muslime im Zentrum Berlins gegen ein Verbot der Beschneidung protestieren, dann ist das ein Ereignis von überragender Bedeutung.
Denn wann kommt es schon in Deutschland vor, dass sich religiöse Minderheiten derart ins Abseits gedrängt fühlen, dass sie glauben, mit öffentlichem Protest auf die Straße gehen zu müssen? Wann hat es überhaupt schon einmal eine Kundgebung deutscher Juden in ureigener Sache – zur Verteidigung ihrer religiösen Sitten – gegeben?
Man mag über Sinn oder Unsinn der Beschneidung trefflich streiten. Ja, man kann diese juristisch als Körperverletzung begreifen. Das könnte aber auch für das Anlegen abstehender Ohren im Kindesalter gelten. Die Kritiker der Beschneidung mögen aber vor allem bedenken, dass sich ihre Forderung nach einem Verbot eben nicht gegen Angehörige der Mehrheitsgesellschaft richtet, sondern gegen Minderheiten – im Falle der Juden gegen eine Minderheit, die in Deutschland vor wenigen Jahrzehnten Furchtbares erlitten hat. Minderheitenrecht und -schutz sind zentrale Bestandteile der Demokratie.
ist Leiter des Ressorts taz.eins der.
Die Beschneidung von Jungen zählt zu den zentralen Riten in Islam und Judentum. Es ist deshalb wenig verwunderlich, wenn Juden und Muslime es als einen Angriff auf die freie Ausübung ihrer Religion verstehen, wenn dieser Ritus aus der Mehrheitsgesellschaft infrage gestellt wird. Wenn viele Juden nun glauben, auf die Straße gehen zu müssen, um dieses Recht zu schützen, dann ist das ein Alarmzeichen für die Demokratie.
Muslime als Mitglieder der größeren Minderheit waren am Sonntag nur vereinzelt zu sehen. Zwar eint beide Gruppen ein religiöser Ritus. Doch daraus ist bisher keine politische Gemeinsamkeit geworden. An der jüdischen Gemeinschaft liegt das nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken