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Kommentar Anschlag in IstanbulErdoğan lenkt von sich ab

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Faktisch hat Erdoğan in der Türkei schon längst die Alleinherrschaft inne. Doch nicht einmal er scheint die Lage kontrollieren zu können.

Für viele TürkInnen ist die Situation in ihrem Land aussichtslos Foto: dpa

M itallem Nachdruck, bis zum endgültigen Sieg, werde man den Terror gnadenlos bekämpfen. Diese martialischen Worte äußerte Präsident Erdoğannach dem neuerlichen Anschlag in Istanbul, doch sie wirken längst wie eine Routineübung, die nicht mehr darüber hinwegtäuschen kann, dass die türkische Regierung dem Terror ohnmächtig gegenübersteht – auch weil sie ihre eigenen Sicherheitskräfte durch „Massensäuberungen“ systematisch geschwächt hat.

Selbst vor obskuren Verschwörungstheorien schreckt Erdoğannicht zurück, um von seiner Verantwortung abzulenken: In seiner Neujahrsbotschaft noch vor dem Anschlag sprach er davon, dass der Terror nur das sichtbare Zeichen sei und dass die Angriffe in Wahrheit von dunklen Mächten ausgingen, die den Aufstieg der Türkei verhindern wollten.

Das Orakeln über dunkle Mächte ist nicht neu, doch diese Verbalattacken sollen nur vertuschen, dass der Terror in der Türkei ganz klare Ursachen hat. Die PKK bombt, seitdem Erdoğannach der verlorenen Wahl im Juni 2016 die Friedensverhandlungen mit der kurdischen Guerilla für beendet erklärt hat; und der IS verübt seine Terror-Attentate, weil Erdoğandie Türkei aus machtpolitischen Erwägungen immer tiefer in den Sumpf des syrischen Krieges manövriert hat. Solange sich an dieser Politik des türkischen „Führers“ nichts ändert, werden auch die Terroranschläge nicht enden.

Ein Land in Angst, so könnte ErdoğansKalkül sein, wäre vielleicht eher bereit, einem autoritären Präsidialsystem zuzustimmen, weil sich eine Mehrheit dann nach Stabilität und Sicherheit sehnt. Doch dieses Kalkül könnte auch danebengehen. Schon jetzt besitzt Erdoğanfaktisch die Alleinherrschaft. Dennoch nimmt die Gewalt ständig zu. Viele Wähler könnten daher daran zweifeln, ob der starke Mann überhaupt noch in der Lage ist, den Terror zu stoppen, ob mit Exekutivvollmachten oder ohne.

Viele Türken, vor allem die säkulare westlich orientierte Mittelschicht, verzweifeln längst an der aussichtslosen Lage. Sie wollen nur noch weg. Die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage verschärft sich dadurch weiter, und die Abwärtsspirale dreht sich immer schneller. Die Aussichten für 2017 legen nahe, dass niemand, auchErdoğannicht, die Entwicklung noch kontrollieren kann.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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9 Kommentare

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  • Was wir im nahen Osten sehen ist nichts neues. Seit dem die westliche Welt meint sie habe die Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit für sich gepachtet , wird es dort immer neue Alleinherrscher und Terror geben ! Viel spannender finde ich nicht die Frage wie lange Erdogan weiter macht sondern was passiert in den Arabischen Staaten wenn die Welt plötzlich auf Elektromobilität umstellt ? Anstatt ewig mit dem Zeigefinger auf Erdogan und Co. zu weisen, sollte sich Europa ( oder das was übrig bleiben wird) für die Zukunft so aufstellen das es sich auch lohnt für die ''unsere'' Freiheit zu kämpfen . Unser bisheriges Zukunftsdenken wird gerade über den Haufen geworfen ! Ich apelliere an alle die meinen dessen neues Zukunftsziel die totale Entmündigung durch die Digitalisierung zu sein scheint : Nur wer frei wählen kann ist wirklich frei ! Ob Erdogan oder Digitalisierung in beiden Fällen gibt es keine Wahl ! Dieser Bogen ist zwar sehr weit gespannt , jedoch lohn es sich über ihn nachzudenken !

  • 5G
    571 (Profil gelöscht)

    Er wird weiterhin blindwütig um sich schlagen und damit den Terror weiter verschärfen. Gegner hat er ja zur Genüge und es werden mehr. Der IS ist nur einer davon.

  • „…und der IS verübt seine Terror-Attentate, weil Erdoğan die Türkei aus machtpolitischen Erwägungen immer tiefer in den Sumpf des syrischen Krieges manövriert hat.“

     

    Allerdings sollte man nicht übersehen, dass der IS erst begann in der Türkei zu bomben, nachdem Erdogan Versuche unternommen hat, sich mit Russland und Assad auf eine Konfliktlösung in Syrien zu einigen. Sie Anschläge sind also eher eine Strafe für seinen „Verrat“ am Plan Assad, zu stürzen.

     

    „Die Aussichten für 2017 legen nahe, dass niemand, auch Erdoğan nicht, die Entwicklung noch kontrollieren kann.“

     

    Ich denke, Sie unterschätzen hier die Kraft des Destruktiven. Er hat die „säkulare westlich orientierte Mittelschicht“ längst an die Wand gedrückt und wird uns wohl (leider) noch ein paar Jahre erhalten bleiben.

     

    Was den IS betrifft, so sollte man nicht so pessimistisch sein. Die Chancen stehen gut, dass er 2017 seine territoriale Basis verlieren wird. Das schränkt seine Möglichkeiten ein und wird hoffentlich auch dazu führen, dass sich weniger Dumme finden, die für ihn zu sterben bereit sind. Verlierer wirken weniger anziehend.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Jetzt ohne allzu große Sympathien für Erdogan zu hegen, bitte ich zu bedenken, dass wir hier von einem Land sprechen, wo ein Teil der Streitkräfte gegen einen (demokratisch) gewählten Präsidenten gewaltsam geputscht hatte und vorhatte ihn umzubringen. Daneben hat dieses Land sein ungelöstes Minderheitenproblem und neuerdings einen Bürgerkrieg und Islamisten vor der Haustür.

     

    Bei uns reicht schon ein G7-Treffen aus, um martialisch aufzutreten.

  • Dieser Artikel ist ja zu allererst eine persönliche Bewertung des Autors und ich finde, sie ist in Ihrer emotionalen Schlichtheit der taz unwürdig.

     

    Liest der Autor seine eigene Zeitung nicht? Sollte er. Die ist so schlecht nicht.

     

    Man muss kein Historiker sein, um zu ahnen, dass es in der Türkei keine (freien) Wahlen mehr geben wird.

    Und wenn Wahlen, dann nur solche, bei denen außer der AKP nur chancenlose Haufen antreten dürfen.

    Und das der Terror den Sinn hat, die langfristige Repression abzusichern.

     

    Ich bitte um Realismus, auch wenn es nicht angenehm ist.

     

    Allen verbliebenden Optimisten empfehle ich, sich z.B. mal mit der Machtergreifung Hitlers 1933 und seiner effizienten Übernahme der staatlichen Institutionen zu beschäftigen. Eine gern wiederverwendete Blaupause für die Diktatoren unserer Zeit.

     

    Konrad Adenauer meinte damals übrigens (er war OB von Köln), der Spuk wäre sicher nach einigen Monaten vorüber.

    H. Gottschlich ist also nicht allein :-).

     

    Ich meine: Erdogan macht Alles das momentan ziemlich gut und wird das voraussichtlich auch noch einige Zeit konsequent weitermachen.

     

    Nein, ich glaube ihnen (mit großem Bedauern) nicht.

  • Mir tun die getöteten, die gemordeten, die invalidierten und traumatisierten Menschen des Neujahrsanschlags in Istanbul leid! Es erscheint, als ob viele Übeltäter im Nahen Osten und in der Türkei .. motiviert durch alten Hass ungelöster Konflikte.. versuchen, eine zerstörerische Apocalypse zu entzünden! Mir gehen die Absolutheitsansprüche der Parteien des "Terrors" und deren zivilisatorische Visionen auf den Keks: ob der IS, oder alnusra, oder radikale Kurden etc. Denn: mit Angst, Korruption und Terror verwurzelten ethnischen, religiösen Gruppierungen und deren Gewalt lässt sich ein attraktiver, ziviler Staat nicht errichten! Es geht dem Präsidenten Erdogan darum, "seine Türkei" funktionsfähig zu erhalten, mit allen Mitteln, um nicht im Chaos zu enden..

  • Wenn einer das Wesen des Terrorismus nicht kapiert (wie übrigens die Wenigsten...) dann hat er eh keine Chance. "Den Terrorismus bis zum Sieg zu bekämpfen" ist ebenso lächerlich wie "wir werden den Hass hassen, bis es keinen Hass mehr gibt" oder "wir werden alle Andersdenkenden vernichten, bis alle gleich denken". Vielleicht schafft er es, ihn über irgendeine Grenze zu exportieren, aber mehr sicher nicht.

    Wer so regiert, sät mehr Konflikte, als er in den Griff bekommt - zumindest langfristig.

  • Erdogan mag von sich ablenken oder nicht - er mag Geschichten erzählen, die abstruser nicht sein können oder nicht - die Realität wird ihm nicht zuhören - ganz offensichtlich nimmt der Terror dramatisch zu - und damit auch das Leid der Menschen in der Türkei. Es ist das Spiegelbild der Politik von Erdogan - ein Bild der verbrannten Erde, von Terror und fanatischer Gewalt - im Spiegelbild findet sich nichts, was Erdogan nicht selbst schon getan hat.