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Kommentar 70 Jahre GrundgesetzMehr Verfassung wagen

Erstaunlich ist, dass das Grundgesetz so erstaunlich jung geblieben ist. Es wirkt an vielen Stellen progressiver als Politik im Jahre 2019.

Gruppenbild mit Bundeskanzlerin: Jubiläumsakt zu 70 Jahre Grundgesetz in der Stiftung Integration Foto: dpa

Es gibt Sätze, die strahlen wie kleine Sonnen im Weltall. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist so einer. ­Artikel 1 ­Absatz 1 GG. Im deutschen Grundgesetz, das in diesen Tagen 70 Jahre alt wird, stehen sehr viele solcher Sätze. Und ja, wir können froh sein, dass wir diese Verfassung haben.

Die Deutschen neigen ja mitunter zum Nörgeln, aber ab und zu darf man sich schon darüber freuen, dass man in einem freien, wohlhabenden Land lebt, vereint in einem friedlichen Europa. Dass das so ist, haben wir auch dem großartigen Grundgesetz zu verdanken. Welche Weitsicht seine Mütter und Väter verband, zeigt schon ein Satz in der Präambel. Die Deutschen hätten sich das Grundgesetz gegeben, „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“.

Was für ein Mut, zwei Jahre vor Gründung der Montanunion, der ersten zarten EU-Vorläuferin, von einem „vereinten Europa“ zu sprechen! Und welche Diskrepanz zur deutschen Realpolitik. Um friedliches Miteinander auf Augenhöhe geht es bei schnöder Machtpolitik ja gerade nicht. Bundeskanzlerin Angela Merkels Austeritätsdiktum gegenüber Griechenland steht beispielsweise der Vision des Grundgesetzes diametral gegenüber.

Das Erstaunliche an dieser Verfassung ist ja, dass sie so jung geblieben ist. Das Grundgesetz wirkt an vielen Stellen progressiver als die reale Politik im Jahr 2019. Zum Beispiel erteilt es den Parteien einen klaren Auftrag, Gleichberechtigung zu fördern. Da heißt es ja nicht nur, dass Männer und Frauen gleichberechtigt seien. Sondern auch, dass der Staat auf die Durchsetzung und die Beseitigung von Nachteilen hinwirken müsse. Hallo, Frau Merkel? Unmissverständlich ist das. Das Grundgesetz will ausdrücklich nicht, dass Frauen im gleichen Job weniger verdienen als Männer, dass Frauenberufe schlechter bezahlt sind oder dass Frauen seltener in Chefetagen landen. Auch konservative Regierungen wären eigentlich dazu verpflichtet, wie Feministinnen zu handeln. Daran sollte man die selbsterklärten Verfassungspatrioten von Union und SPD ab und zu erinnern.

Nicht zuletzt formuliert das Grundgesetz eine wuchtige Absage an die neuen Rechten. Geschrieben kurz nach Holocaust und Vernichtungskrieg der Nazis legt sie glasklar fest, dass niemand wegen seiner Abstammung, seiner Heimat oder seines Glaubens benachteiligt werden darf. Ein Mensch zählt, weil er ein Mensch ist – das Grundgesetz vertritt ein zutiefst humanistisches Weltbild. Mehr Verfassung wagen, das wäre eine gute Idee in Zeiten, in denen die Realpolitik trübe anmutet.

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4 Kommentare

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  • Grundgesetz. Für die wohl bis heute modernste & progressivste Verfassung ever.

    Ha noi. Ein etwas bemühtes & recht knappes Statement. Fürwahr.



    Gellewelle. Eine arg dünne Flädlesuppe.

    Empfehle daher - Konrad Hesses - “Grundzüge“ 👹



    & als Einstieg - gut abgehangen - Die Zeit (zZt. von J.M.M.;)



    www.zeit.de/1967/2...ration-zur-einheit



    “Integration zur Einheit Die Hauptaufgabe der Verfassung



    Von Walter Euchner zu -



    Konrad Hesse: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. Verlag C. F. Müller, Karlsruhe, 283 S., kart. DM 15,– “ - ;))

    Was besseres & lesbareres kenn ich nicht. •

    unterm—-btw kl. Reminiszenz sei gestattet -



    Seh ihn noch heute vor mir - den späteren untouchable Verfassungsrichter - .



    Als Seminargast - im teils auch mal unfairen - Kreuzfeuer von uns.



    Uns Jungspunden. Dennoch gelassen klug souverän.



    Unvergessen. Danke.

    & ——(Nunja - die dazu passenden Bauernweisheiten lass ich mal wech! 👺



    Ulrich Schulte, Leiter des taz-Parlamentsbüros



    Schulte_ulrich_credit_taz



    Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, ist seit 13 Jahren bei der taz und leitet seit 2011 das Parlamentsbüro der taz. Zuvor war er drei Jahre lang Chef des Inlandsressorts. Er schreibt über Bundespolitik mit Schwerpunkt SPD



    Anfangs schrieb Schulte über Landespolitik, Verkehr und Umwelt im Berlin-Teil, dann über Arbeitsmarkt in der Innenpolitik. Er lernte das Schreiben und Recherchieren an der Deutschen Journalistenschule in München und studierte Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie an der Universität Münster.

    Wie das (unstudierte) Bauernkind uns Ol - gern&klug zu bemerken wußte:



    “ Hett all siin Weetenschaft!“ Liggers •

    • @Lowandorder:

      Klar, hier ist ja Platz für einen Riesendiskurs, Herr Gellewelle :-)

      • @DVO:

        Nur zu. Les ich gern.

        Nur macht sich sowas bekanntlich an einem reich gedeckten Tisch leichter bunter ideenreicher - als vor einer faden Flädlesuppe kleinbürgerlicher Provenienz hockend. Gellewelle.

        unterm—-btw only nochens -



        Mit gut fünfzig Jährchen beschäftigt damit - in kleiner Münze - wie doch gelegentlich auch in größerer - kerr.



        Sehnse mir bitte nach - daß ich da nur noch als flanierender Zaungast zugegen bin. Regelmäßiges a tazis 👹 Haareraufen - all inclusive. Liggers.



        Njorp.

  • 0G
    05654 (Profil gelöscht)

    Wahre Worte ...

    Nochmal zum nachschmökern ..:

    ( Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ) www.gesetze-im-int...BJNR000010949.html