Kolumne: Der Tischwein war frei
Wo erlebe ich ein Land am authentischsten? In seinen Touristenlokalen.
Mein erträumtes Reiseziel war ja immer Tibet gewesen. Obwohl mich die Chinesen mit ihrer Theorie zur tibetischen Kultur schon deprimieren. Das ganze Gebetstrommel-Gerassel, Om-mani-padme-hum-Gesinge, das Meditieren sei nicht etwa Ausdruck einer spirituellen Hochkultur. Die Himalajavölker murmelten die immer gleichen Gebete vielmehr deswegen so unermüdlich vor sich hin, weil die dünne Höhenluft mit dem niedrigen Sauerstoffgehalt das Gehirn automatisch auf Grundumsatz herunterschalten ließe. Behaupten die Chinesen.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik im Inlandsressort der taz.
Nix Hochkultur also? Alles eine Sache der Hirnphysiologie? Das ist ein bisschen traurig, denn wie viele Menschen in mittleren Jahren hatte auch ich die Fantasie, im Alter durch den Himalaja zu trecken und dort buddhistische Klöster zu besuchen, um mich durch meine physische Verbindung mit dem höchsten Gebirge der Welt und einem immer gleiche Mantras rezitierenden Volk über meine eigene Vergänglichkeit hinwegzutrösten.
Dabei warnt der Dalai Lama himself ja ein bisschen vor. Es sei schwierig, soll er gesagt haben, wenn sich ein Mensch im Erwachsenenalter eine fremde Kultur aneignen wolle. Besser sei es, man würde sich zur Kultur der eigenen Ahnen bekennen. Vielleicht ist der Dalai Lama ein bisschen müde geworden ob der Millionen von Westlern, die ihn verehren, aber mit der Armut und Unterversorgung der Himalajavölker dann doch nicht so viel zu tun haben wollen.
Jedenfalls ging mir das durch den Kopf, als wir kürzlich Istanbul besuchten. Es war ein merkwürdiges Gefühl, durch die etwas abgelegenen Viertel Balat und Fener zu flanieren, die im Reiseführer als Gegenden mit dem "morsch-verwitterten Charme des alten Istanbuls" angepriesen werden. Wäscheleinen mit löchrigen Hemden, fliegenumschwirrte Hammelköpfe in den Läden, tief verschleierte Frauen in staubigem Schwarz, holperiges Pflaster. Je ärmer, desto authentischer. Schräge Gleichung. Ich war froh, als wir wieder die Fähre bestiegen Richtung Innenstadt.
Wir endeten in der "Orient House Night Show" in einem Hotel im Istanbuler Geschäftsviertel Beyazit. Wir müssen am Eingang unsere Nationalität angeben, umgehend wird uns ein Stäbchen mit deutscher Flagge auf den Tisch gestellt. Vor dreißig Jahren wäre ich darob vor Peinlichkeit in den Boden versunken. Damals waren wir mit einem alten VW-Bus nach Istanbul gefahren und versuchten dort, uns so cool zu bewegen, als hätten wir schon immer hier gelebt. Wir verachteten Pau- schaltouristen, niemals wäre ich in einen Touristenrumms wie diesen Laden hier gegangen.
Doch das war gestern. Um uns herum entdecke ich jetzt Tische mit litauischen, turkmenischen, koreanischen, norwegischen und spanischen Flaggen. Warum eigentlich nicht.
Zwei Bauchtänzerinnen und einige Männer, die mit Pluderhosen und Fez bekleidet sind, zelebrieren auf der Bühne irgendetwas orientalisch Anmutendes. Ein eurasisch aussehender Moderator begrüßt die Gäste in 20 verschiedenen Landessprachen, sogar auf Mandarin kann er "guten Abend" sagen. Die Spanierinnen winken mit ihren Halstüchern, die Koreanerinnen strahlen, die turkmenischen Geschäftsleute bestellen noch ein paar Drinks. Interessante Physiognomien hier.
Am Ende stehen 20 Frauen aus dem Publikum auf der Bühne, darunter eine Syrerin, eine Koreanerin, eine Spanierin, eine Norwegerin, eine Libyerin, alle üben Bauchtanz. Der Master of Ceremony hat gute Arbeit geleistet. Zuvor schon hat er eine grauhaarige, elegante Inderin im Sari aus dem Publikum dazu gebracht, "que sera, sera" zu singen.
"We are the world, we are the people" grölen wir am Ende. Der Tischwein war frei. "We are one world", ruft der MC ins Publikum. Yes! Ein Glück, dass mich hier von zu Hause keiner sieht. Aber egal. Kurz vor Mitternacht taumeln wir nach draußen. Das war ein schöner Abend.
"Tibet", sagt Christoph eines Sonntagsmorgens beim Studium der Zeitung, "da fährt doch jetzt diese supermoderne neue Bahn von Peking aus hin. In zwei Tagen nach Lhasa. Könnten wir irgendwann mal machen." Könnten wir. Ich habe noch eine andere Reiseidee. In der Pfalz haben sie jetzt irgendwelche früheren Pilgerwege wiederentdeckt. "In der alten Heimat wandern", sage ich, "das fände auch der Dalai Lama gut."
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