Kolumne: Auf halber Durchschnitts-Schwanzlänge
Was hat mein Leben mit einem Bazooka-Joe-Kaugummi an einer Schuhsohle gemein? Na, lesen Sie selbst.
M ein Leben ist eine Katastrophe. Das fing schon mit der Geburt an. Meine Mutter trat, sobald sie den Kreißsaal verlassen hatte, aus der Kirche aus, und ich hatte monatelang einen eiförmigen Hinterkopf von der Saugglocke.
Egal ob ich später über die Schrecken der ersten Hochzeit im Freundeskreis schrieb und sämtliche Hochzeitsgäste des einst von mir (vergeblich) Angebeteten den Text gelesen hatten und mich mit mitleidig-schaulustigen Blicken bewarfen oder ob mich in Tokio ein Tätowierer zu einer Landpartie einlud, die sich als Treffen eines Yakuza-Clans entpuppte, bei dem ich mit einer Horde tätowierter Japaner in einem Outdoor-Whirlpool landete - die Katastrophen kleben an mir wie ein zwanzig Minuten lang gekautes Bazooka-Joe-Kaugummi an einer durchgelatschten Schuhsohle.
Kirsten Reinhardt (30) arbeitet in der Online-Redaktion der taz.
Ich rede hier offensichtlich nicht von obdachlos machenden Regenfluten, von Brückeneinstürzen zur Hauptverkehrszeit oder dem Verkauf von Atomreaktoren an bizarre Staatspräsidenten. Ich rede von dem banalen, fiesen Entsetzen im Alltag. Von abgebrochenen Schlüsseln außen in der Wohnungstür, wenn nach wochenlangem Werben und Wimpernklimpern endlich - ENDLICH! - der schöne Harry vom Kinokartenverkauf mitgekommen ist.
Ich rede von Produktionsfirmen, die den minderjährigen Hauptdarsteller in einem Film über Gewalt unter rechten Jugendlichen in der an sie untervermieteten - eigenen! - Wohnung unterbringen, und dann kommt ein Anruf vom Nachbarn: "Sag mal, was ist eigentlich bei dir los? Da ist immer bis sieben Uhr morgens total laut Techno, ganz viele Kids rennen die Treppen rauf und runter, und die Polizei war auch schon dreimal da?!" Das sind keine echten Katastrophen, sagen Sie? Na, dann passen Sie mal auf:
Neulich war ich in Polen. Musste mich mal erholen. Sie haben es vielleicht mitbekommen: Der Neustart von taz.de, die ganzen bösen Leserbriefe das zehrt. Mein bester Freund will einen Film drehen, ein Road-Movie von Berlin-Marzahn nach Danzig, und wollte die Strecke zur Inspiration abfahren. Weil wir so selten die Gelegenheit haben, uns live unser Leid zu klagen, kam ich mit. Der polnische Koproduzent und selbsternannte Chauffeur Bogdan hatte bereits zwei Nächte nicht geschlafen und hielt sich mit einer Mischung aus Red Bull und Milchkaffee wach.
Wissen Sie eigentlich, dass in Polen nicht die halbe Tacholänge als Abstand zum vorderen Auto gilt, sondern die halbe Durchschnitts-Schwanzlänge? Und wie sich das anfühlt, wenn nach jedem Schlagloch der Magen einen Moment länger in der Luft bleibt als der Rest des Körpers? Und dass Überholen dort als eine Art Männlichkeitsritual praktiziert wird?
Bogdan machte das so: In der rechten Hand hielt er sein Mobiltelefon, in das er ununterbrochen hineinschrie (Geschäfte!) oder -säuselte (Die süße Zofia in Warschau ) Mit dem linken Zeigefinger berührte er das Lenkrad. An die Lkws mit der herrlichen Konsonantenbeschriftung vor uns (przeprowadzki heißt Umzug) raste er mit 120 Stundenkilometern bis auf besagte Abstandslänge heran (eine durch nichts belegte Schätzung), bremste kurz vor dem Aufprall in einer Zehntelsekunde auf 90 ab, um dann haarscharf an der Lkw-Kante vorbei auszuscheren. Angesichts des entgegenkommenden Autos raste er an drei, vier Verkehrsteilnehmern vorbei, um im letzten oder auch allerletzten Moment mit einer gelangweilten Beuge des Zeigefingers auf die rechte Fahrbahn zu lenken. Dass wir gern noch um die 40 Jahre leben würden und ihm das in einer Lautstärke um 100 Dezibel (Presslufthammer) mitteilten, kratzte Bogdan nicht. Er zuckte die Achseln, fuhr sich durchs Haar und sprach, während er die Nummer seiner Mutter ins Telefon tippte: "Was?! Keine Katastrophe!"
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