Kolumne Wirtschaftsweisen: Kriegsheld oder Titan des Lichts?

Nach einem Bombenalarm und einer Messerattacke erklären manche den Prager Platz zum sozialen Brennpunkt. Und ein Filmer nimmt sich der Sache an.

Der Brunnen am Prager Platz

Die Fontäne des Brunnens am Prager Platz sprudelt vor sich hin – wenn keine Frostgefahr besteht

Kaum eine Woche nach dem Bombenalarm am Prager Platz am 4. August (taz berichtete), wurde keine hundert Meter entfernt eine Frau niedergestochen, die ehrenamtlich zwei kleine Grünflächen dort pflegt. Die Begründung des Täters lautete, sie habe am Samstag gearbeitet. Einen Nachbarn, der ihr zu Hilfe kommen wollte, verletzte er ebenfalls.

Seitdem spricht man vom sozialen Brennpunkt Prager Platz, auch das Wort „Verbrecherhochburg“ fiel schon – und das im beschaulichen Wilmersdorf. Anwohner standen in kleinen Gruppen an den Straßenecken und sprachen über die Vorfälle. Die um den mit Blumen eingefassten Brunnenplatz Wohnenden achteten eine Weile lang genauer darauf, wer auf der verkehrsberuhigten Straße gerade hinter einem ging und wer vor einem.

Das schlug sich auch im Internet nieder. Und prompt kamen die ersten Neugierigen, dann auch Lokaljournalisten. Ein Kreuzberger Filmer erfuhr von ihnen einiges über den Prager Platz und konnte einen WDR-Regisseur für dieses „Thema“ begeistern. Das erfuhr ich von ihm selbst, als ich wie an manchen Sonntagen draußen vorm italienischen Restaurant am Prager Platz Kaffee trank – und fasziniert davon war, dass seit über einer Stunde ein großer Polizeiwagen mit Blaulicht vor dem Hotel Hyperion stand und dass auf einer der Bänke am Platz ein weißes Federbett lag.

Weil ich dachte, das gehöre auch noch zu seinem „Thema“, wies ich ihn darauf hin. Er fragte dann eine junge Passantin, was da im Hyperion los sei. Das wisse sie auch nicht; das letzte Mal, das sie das Hyperion besucht habe, da war es ein Impfzentrum und sie musste eine Stunde draußen in einer Warteschlange stehen.

„Verbrecherhochburg“ Prager Platz

Ich fragte daraufhin den Filmer, wer oder was denn Hyperion eigentlich sei – ein Romantitel von Hölderlin, ein griechischer Gott, ein Held? Die junge Passantin holte daraufhin ihr Smartphone raus und googelte. „Hyperion war ein Titan“, sagte sie, „und zwar der Titan des Lichts.“ Darunter konnten der Filmer und ich uns nicht viel vorstellen.

Auch nicht über Hölderlins lyrischen Briefroman Hyperion, über den uns die junge Passantin dann auch noch informierte: Die äußere Handlung sei „gegenüber den inneren Erfahrungen nur von untergeordneter Bedeutung, deren strömender Gefühlsreichtum in sprachliche Klangfülle gebannt ist“. Immerhin nimmt Hölderlins Hyperion 1770 am Befreiungskampf der Griechen gegen die türkische Herrschaft teil. „Die Roheit des Krieges stößt ihn jedoch ab“, laut Wikipedia, „verwundet kehrt er nach Griechenland zurück, wo er sein Kriegstrauma allein in einer schönen Landschaft ‚überwindet‘“.

„Das muss man auch noch wissen“, sagte die junge Passantin: „Der Roman ist ein Selbstbekenntnis … Hyperion ist also Hölderlin. Das Haus am Prager Platz ist ein Hölderlin-Hotel.“

„Daraus ließe sich vielleicht was machen“, murmelte der Filmer.

Ein Filmer, der einen Gedichtband schreibt

Die Geschichte am Prager Platz ging dann so weiter, dass er daraus eine Serie für den RBB plante – und deswegen fast täglich dort aufkreuzte, um sich von der „Atmo“ inspirieren zu lassen. Er lauschte den Gesprächen in den umliegenden Cafés, kannte die Kellner und erledigte seine Einkäufe bei Edeka in der Prager Passage.

Aber, um die Geschichte abzukürzen: Aus der Serie wurde nichts – oder nur so viel, dass daraus schließlich ein schmaler Lyrikband mit Skizzen vom Prager Platz entstand, wobei in den Gedichten selbst kaum vom Platz die Rede ist. Nur an einer Stelle, in der er auf die junge Passantin zu sprechen kommt, wird der Brunnen auf dem Platz erwähnt. Nämlich als die Fontäne versiegte, weil man das Wasser abgestellt und die Rohre leer gepumpt hatte, damit sie bei starkem Frost nicht kaputtgehen.

Für mich neu war seine Beobachtung, dass es rings um den Prager Platz lauter spanische Kitas und Vorschulen gibt. Er sucht noch einen Verlag.

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geb. 1947, arbeitet für die taz seit 1980, Regionalrecherchen, ostdeutsche Wirtschaft, seit 1988 kulturkritischer Kolumnist auf den Berliner Lokalseiten, ab 2002 Naturkritik.

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