Kolumne Provinz: Stille Nacht im Gäu

Alle wollen raus, ich will hinein. Nirgendwo ist Weihnachten so besinnlich wie im Krankenhaus.

Wohin mit Mutti an Heiligabend? "Letztes Jahr war sie bei uns, dieses Jahr nehmt ihr sie." Über diese Frage werden auch heute wieder viele Geschwister in Streit geraten und sich alles heißen, nur nichts Gutes: undankbar, egoistisch, herzlos. An mir perlt dieser Vorwurf ab wie Glühwein auf dem Friesennerz. Natürlich hätte ich sie gern genommen, den Opa noch dazu und von mir aus auch den ganzen Rest der Verwandtschaft. Aber leider, leider geht es nicht. Denn ich liege dieses Jahr an Weihnachten im Krankenhaus. Es war eine geniale Entscheidung.

Gar nicht einmal wegen Mutti. Die ist sogar ganz gut zu ertragen. Es ist eher das Gesamtpaket "Weihnachten", was mich in diesem Jahr von zu Hause fliehen ließ. Immer derselbe Stress: Eine Weihnachtsfeier jagt die nächste, alle Kinder, Neffen und Nichten erwarten Geschenke, längst versprochene Artikel sollen noch vor dem 24. Dezember fertig werden und Freunde fragen frech und erwartungsvoll, ob es denn zwischen Weihnachten und Silvester wieder eine schöne Einladung zum Essen gebe. Nix gibts. Ich liege im Krankenhaus. Ihr könnt mich mal.

Niemand nahm es mir übel, niemand durchschaute den Trick. Alle wünschten mir alles Gute und bedauerten mich, dass ich ausgerechnet an Weihnachten diese Operation … Ich machte ein trauriges Gesicht und sagte: "Wird schon werden." Dabei glaube ich fest, an den bisschen Hämorrhoiden hätte man gar nicht herumschnipfeln müssen, und für die Darmspiegelung wäre auch in zehn Jahren noch Zeit genug gewesen. Aber um Weihnachten zu entkommen, war mir diese Idee geradezu befreiend erschienen. Ich meldete mich an in einem Provinzkrankenhaus, weit genug entfernt von meinem Wohnort, und betete um Glatteis zu den Feiertagen.

Es ist übrigens gar kein Problem an Weihnachten einen Platz in einer Hämorrhoiden-Klinik auf dem Land zu bekommen. Der Herr Professor schien geradezu entzückt von der Idee.

Ich bin jedenfalls allein im Zimmer, und das Personal hat unendlich viel Zeit. Gerade brachte "Nachtkrankenschwester Ursula" mir die Tageszeitung zum Frühstück, Der Gäubote - Tageszeitung für das Gäu, und der dritte Pfleger will heute Morgen schon von mir wissen: ob ich noch einen Wunsch hätte.

Nein. Den einzigen Wunsch, den ich habe, verschwieg ich ihm allerdings: Vor 48 Stunden habe ich das letzte Mal etwas gegessen, und das Erste, was sie mir hier in den kommenden Tagen wahrscheinlich anbieten werden, wird ein scheußlicher Brei sein. Zu Hause werden sie zur selben Zeit marinierten Lammrücken essen, mit einem Karottensoufflé als Beilage und Rosmarinkartoffeln aus dem Backofen. Vorneweg ein Kürbis-Ingwer-Süppchen mit einem Schuss dreißig Jahre alten Balsamico. Dazu einen DAvola Nera von 1998. Ich trinke seit zwei Tagen nur Rohrauer Friedrichsquelle, "streng kochsalzarm".

Diese Völlerei ist sowieso ungesund. Der immer gleiche Artikel über den "Feiertage-Speck" und wie man ihn wieder los wird ist schon geschrieben und liegt in allen deutschen Redaktionen bereit zum Abdruck.

Tut sich die Frage auf: Warum wohl floh die vierzehnjährige Laura Dekker aus Utrecht wenige Tage vor Weihnachten bis in die Karibik? Richtig. Dass man sie vier Tage vor Heiligabend dort aufspürte und ins Flugzeug nach Hause setzte, ist ein Verstoß gegen das Menschenrecht auf einsame Feiertage. Nun muss die arme Laura doch mit ihren lieben Verwandten unterm Christbaum feiern.

Der Wetterbericht des Gäuboten hat für übermorgen Blitzeis angesagt. Ich drück mir die Daumen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.