Kolumne Mittelalter: Jeff Bezos' neue Kleider
Ein Münchner Buchändler giftet öffentlichkeitswirksam gegen Amazon. Kann man verstehen – aber guten Service muss man einfach lieben.
D ass der Kunde König ist, wird wohl niemand bestreiten, der sich ernsthaft daran macht, ein Geschäft zu betreiben – es sei denn natürlich, es handelt sich um eine Führungskraft bei EasyJet, der Deutschen Post oder bei VW.
Umgekehrt gilt aber auch, dass Könige und höheres immer auch Kunden waren. Im bekannten Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“ etwa kommen betrügerische Weber in die Stadt des eitlen Monarchen, stellen ihre Webstühle auf und das Verhängnis – oder die Posse – nimmt seinen Lauf.
Wohlgemerkt: Die Mühe des sich-auf-den-Weg-Machens nimmt auf sich, wer etwas verkaufen will – nicht derjenige, dem etwas zu erwerben im Sinn steht.
Ein Münchner Buchhändler hat in diesen Tagen die Frage aufgeworfen „Wieso kauft man Bücher über Amazon?“ und in den sozialen Medien aufgeregte Zustimmung eingefahren für seine Feststellung „Amazon will die Welt beherrschen“.
Heute ein König
Nun weiß ich auch nicht genau, wieso man Bücher bei Amazon kauft. Ich weiß aber, wie meine Freundin sich kürzlich eine neue Lederjacke gekauft hat: Wie eine Königin.
Sie hat sich im Netz ein paar Lederjacken ausgesucht und sie sich nach Hause liefern lassen. Dort hat sie sie in aller Ruhe anprobiert und einige Tage wirken lassen, auf sich und auf andere. Dann hat sie eine behalten und die anderen zurückgehen lassen.
Gegen dieses Vorgehen gibt es mancherlei Einwände, ökologische in erster Linie, aber auch solche, die darin kein Jobwunder, sondern lediglich ein neues Dienstleistungslumpenproletariat von abgehetzten Ausfahrern erkennen mögen.
Meine Meinung ist, dass Autofahrten mit nur einem Insassen zumindest in der Innenstadt verboten gehören – das Nähere kann ja dann wie immer ein Gesetz regeln. Ich bin für einen Mindestlohn von mindestens 10 Euro in der Stunde und unterstütze jede Forderung, welche die durch die Auslieferungsindustrie verursachten Kosten nicht die Gesellschaft, sondern die Verursacher zahlen lässt.
Aber: Jeder echte Schriftsteller will das beste aller Bücher schreiben. Und jede echte Buchhändler sollte den besten Service bieten wollen. Wenn er einen Wettbewerbsnachteil sieht, möge er sich nicht bei Amazon, sondern bei seinem Lobbyverband, also dem Börsenverein beschweren – der übrigens einst mit den studentischen Raubdruckern nicht gerade glimpflich umgegangen ist –, damit der dann der Politik Beine macht.
Oder unser Buchhändler des Vertrauens muss eben seinerseits einen Ausfahrer engagieren, der seine Produkte zur Ansicht ins Haus der Kunden liefert und die nicht gewünschte Ware an der Tür wieder abholt.
Es gibt andere Modelle – etwa, dass Fachgeschäfte eine Beratungsgebühr verlangen. Ob sie der Attraktivität der einst nur feudalen und großbürgerlichen Klassen vorbehaltenen Nachhause-Lieferung damit etwas entgegensetzen können?
Das Ende der Geschichte
Verständliche Ausbrüche wie die des Münchner Buchhändlers schüren auf Dauer nur buchkulturfremde Ressentiments. Einkaufen diversifiziert sich, in Praxis, also Amazon&Co, und Erlebnis – da bekommt dann auch der kleine feine Laden seine Chance.
Und überhaupt: Die Geschichte vom Kaiser und seinen Kleidern ist ja nicht zu Ende erzählt (das haben gute Geschichten so an sich)! „Der Kaiser“, heißt es Hans Christian Andersen, „kam selbst“ in die Werkstatt der zugezogenen Betrüger!
In guten Geschichten geschieht nichts zufällig; und was wirklich erzählt ist, lässt sich nicht in einer „Moral von der Geschicht'“ fassen.
Aber sein kann es natürlich, dass wir irgendwann durch unsere Stadt flanieren werden, mit so einem diffus unguten Gefühl, bis plötzlich sich eine Stimme der Unschuld erhebt und unter uns sich zischelnd die Botschaft verbreitet, dass das hier ja wohl gar keine Stadt ist, sondern nur ein abgestorbenes urbanes Konglomerat, durch dessen Straßen tausende von Lieferwagen rauschen, vorbei an verrammelten Schaufensterscheiben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“