Kolumne Marx 2.0: Vom Niedergang eines Berufsstandes
Bundeswehr in Afghanistan: Warum lügen die Journalisten mit?
Es gab einmal einen Journalisten, der schrieb Kommentare und hieß Rudolf Augstein. Alle 14 Tage vertrat er im Spiegel den immer gleichen Standpunkt zum immer gleichen Thema: Realpolitik sei besser als Kriegspolitik. Er wiederholte sich dabei so hemmungslos und schamlos, dass er von jedem Vorgesetzten auf der Stelle gefeuert worden wäre, hätte es einen gegeben.
Er schrieb einfach immer dasselbe: Man dürfe keinen Unrechtsstaat militärisch angreifen, so schlimm der auch sei. Denn sonst müsse man noch 50 andere angreifen, die noch viel schlimmer seien. In seinem letzten Kommentar wenige Tage vor seinem Tod agitierte er erneut gegen den Irakkrieg und lobte Kanzler Schröder für dessen militärische Zurückhaltung.
Das ist lange her. Die Haltung, die Entschiedenheit, die Strahlkraft.
Heute gibt es keinen Journalisten, der Vergleichbares in Sachen Afghanistan sagt. Politiker schon: Lafontaine, Gysi, überhaupt die ganze Linken-Führung, Ströbele und manche Basis-Grüne. Die Journalisten übernehmen die Sprachregelungen der regierenden Parteien. Das ist sehr seltsam. Denn diese Sprachregelungen sind ja schon auf den ersten Blick falsch.
Nehmen wir allein die ersten drei: Ohne die Bundeswehr würden die Taliban dort Terroristen ausbilden. In Wahrheit kontrollieren die Besatzungstruppen nur ein paar Städte, und die Taliban bilden weiter aus, wen und wo sie wollen. Oder: Die Bundeswehr ist für den zivilen Aufbau da. In Wahrheit traut sie sich aus ihren Feldlagern nicht raus und überlässt 90 Prozent des Gebietes sich selbst. Zudem bewirken ein paar hundert Aufbauhelfer in einem Staat von dieser Größe gar nichts. Genauso gut könnte man behaupten, ein paar Hundertschaften Bauarbeiter in Wuppertal würden Deutschland verändern.
Oder: Die Luftschläge schrecken Terroristen ab und sind auch gegen den Opiumanbau gut. In Wahrheit haben die Bomben aus heiterem Himmel dieselbe Wirkung wie in Vietnam: Sie schweißen das Volk zusammen, inklusive Taliban. Und der Opiumanbau hat sich vervielfacht, seitdem wir da sind.
Das alles ist bekannt und sonnenklar. Regierende Politiker dürfen das wahrscheinlich nicht sagen. Das ist beschämend genug, aber wenigstens nachvollziehbar. Sie stehen halt unter dem Druck der Amerikaner. Aber warum lügen die Journalisten mit? Wer oder was treibt sie zu schreiben, unsere Armee sichere am Hindukusch unsere Freiheit? Man dürfe die Afghanen nicht im Stich lassen? Man sei nicht kopflos da reingegangen und werde jetzt nicht kopflos rausgehen, und so weiter? Warum schreibt keiner: Doch, wir sind da kopflos reingegangen, und die 90 Prozent, die wir gar nicht erreichen, sind heilfroh, wenn die todbringenden Bomber endlich vom Himmel verschwinden?
Unsere Freiheit haben wir mit der absurden Militärpräsenz nicht verteidigt, sondern fundamental gefährdet. Jeder von uns getötete Muslim hat die Taliban erst stark gemacht. Warum schreiben die Kollegen das nicht? Hat deshalb die mehrheitliche Empörung in der Bevölkerung keine Auswirkung auf die Wahlentscheidung? Gestern haben viele Menschen die Parteien gewählt, deren Kriegslügen sie durchschauen. Das ist vielleicht nicht einmal ihre Schuld. Es ist ein Versagen des deutschen Journalismus, dem zu vertrauen die Menschen in sechs demokratischen Jahrzehnten gelernt haben.
Gut, dass Rudolf Augstein schon tot ist. Er hätte diesen Niedergang seines Berufsstandes nicht überlebt.
Leser*innenkommentare
Lenny
Gast
Den Niedergang des Journalismus kann man auch hier gut erkennen:
http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=hi&dig=2009%2F09%2F26%2Fa0028&cHash=bcfd1956f4
Auch die Taz macht mit!
H.Klöcker
Gast
Der SPIEGEL schreibt heute neoliberal-konservativ. Kann man vergessen.
Was kann man heute noch lesen?
http://www.nachdenkseiten.de/
http://www.monde-diplomatique.de/pm/.home
http://www.heise.de/tp/
http://www.jungewelt.de/
Im TV vielleicht noch die Sendungen MONITOR oder Panorama!?
sokt
Gast
"Es ist ein Versagen des deutschen Journalismus, dem zu vertrauen die Menschen in sechs demokratischen Jahrzehnten gelernt haben."
Es gibt einen Teil der deutschen Bevölkerung, der in Jahrzehnten gelernt hat, dem deutschen Journalismus zu misstrauen und Flötentöne als solche zu erkennen. Eine Gabe, die sich dank des Internets auf immer größere Teile der Bevölkerung ergießt.
Dennoch erreicht auch die mediale "Konsens-Soße" hier ihren Zweck. Wenn die Mehrheit schon nicht von dem Einsatz zu überzeugen ist, dann wird durch gleichlautend übereinstimmende Berichterstattung doch wenigstens das überwiegende Desinteresse des Volkes am Thema gewahrt.
digitus
Gast
"Heute gibt es keinen Journalisten, der Vergleichbares in Sachen Afghanistan sagt." Das stimmt einfach nicht! Sollte Joachim Lottmann den "Freitag" nicht kennen? Er wird von Jakob Augstein, dem Sohn Rudolf Augsteins herausgegeben, und er und die Redaktionsmitglieder des "Freitag" schreiben dort genau das, was sie einfordern: http://www.freitag.de/0937-kanzlerin-merkel-afghanistan-bundeswehr-luftangriff
vic
Gast
Herr Lottmann, wie recht sie haben.
Und ich bin sehr glücklich über die Existenz der taz, bei der Menschen wie Sie oder ich so etwas noch schreiben dürfen.
Ich lese und schreibe auch auf SZ- und Spiegel-online, und weiß wie es dort zugeht.
tilt
Gast
Der Krieg würde enden, würde er Krieg genannt werden.
Anna Luehse
Gast
Guter Beitrag!
" ... der Opiumanbau hat sich vervielfacht, seitdem wir da sind."
Stimmt. Damit wären wir beim verschwörungstheoretischen "cui bono". ;-)
Leichte Schwäche:
"Gut, dass Rudolf Augstein schon tot ist. Er hätte diesen Niedergang seines Berufsstandes nicht überlebt."
Er hat ihn eingeläutet. Information: Seit 2003 wird es zunehmend kälter.
„Ohne Angst der Massen gibt es keine Bewegung der Massen."
Ich antwortete:„Deine Aktion wird Folgen haben."
Augstein:
„Hoffentlich. Wenn Du was für mich hast, ruf durch."
http://www.klima-ueberraschung.de/