Kolumne Märchen: Der Kampfhamster
Manchmal müssen Mäuse sterben, damit aus jemandem ein guter Mensch wird
Vor vielen, vielen Jahren, als Märchen noch die Wahrheit waren, da gab es in einem fernen Land einmal ein Menschlein, das gar seltsame Kameraden hatte, daher nennen wir das Menschlein am besten Corinna S. Denn dann wird es nicht erkannt.
Corinna S. schätzte damals die Gesellschaft eines Gefährten namens Holunder, mit dem sie zuweilen gerne im Gasthaus das ein oder andere Rebhuhn speiste und auch dem frischen Getränk zusprach.
Holunder war ein ruhiger und besonnener Mann mit einer angenehmen weichen Stimme, der zu Mensch und Tier stets von außerordentlicher Freundlichkeit war.
Umso erstaunter war Corinna S. eines Abends, als Holunder - befeuert vom Glühwein und angeregt durch Spekulatius und Zimtstern - eine Geschichte aus seiner Jugend zu erzählen begann: Damals war der freundliche Holunder ein aufgeregter Heißsporn, den die Kraft juckte. Im zarten Alter von 16 Jahren zog er in eine ländliche Wohngruppe. Dort wohnten sieben wilde Kerle, die barsten vor Energie und wurden von Aufsehern bewacht. Es gab Tiere auf dem Hof, die sie betreuen mussten, Pferde, Ziegen usw., sie bauten selbst Gemüse an, waren handwerklich tätig - man hat von solchen Einrichtungen gehört.
Der freundliche Holunder gehörte zu dieser Zeit der rüpelhaften Fraktion der erwähnten Kommune an. Und er besaß einen Teddy-Hamster.
Gemeinsam mit einem Freund, der auch dort lebte, hatte er es sich zum Ziel gesetzt, das arme Tier zu einem Kampfhamster abzurichten: Sie setzten den Hamster in einen leeren Plastikeimer und entzogen ihm für zwei oder drei Tage das Futter. Auf dem Hof gab es auch Mäuse. Sie besorgten sich eine oder mehrere Lebend-Fallen und fingen die Mäuse ein. Mit dem schon gereizten und hungrigen Teddy-Hamster wurde nun so verfahren, dass eine Maus am Schwanz gepackt und in den Eimer gehalten wurde, direkt vor des Hamsters Nase. Immer wieder wurde sie hin und her geschwenkt, so lange, bis der entnervte Hamster schließlich zuschnappte und die Maus totbiss. So trieben sie es über längere Zeit.
Holunder erzählte: "Er war hinterher so weit, dass der eine Maus nur sehen musste, um irrsinnig zu werden. Wir haben die Mäuse hinterher einfach in den Eimer geschmissen, er hat sich sofort in blinder Wut auf sie gestürzt und zerfleischt."
Corinna S. schüttelte und wandt sich bei der schrecklichen Geschichte, doch Holunder erzählte - nun einmal in Fahrt geraten - weiter: Die Bewohner dieser Anlage bekamen zu Feiertagen von den Bewachern auch die üblichen kleinen Aufmerksamkeiten, Osterteller zu Ostern, Nikolausteller zu Nikolaus, solche Dinge halt. Und zu seinem grenzenlosen Ärger stellte Holunder eines Tages fest, dass die übrig gebliebenen alten Kekse seines Nikolaustellers über Nacht angeknabbert wurden. Er selbst hatte die harten und muffigen Dinger gar nicht mehr essen wollen, aber den Mäusen gönnte er sie nicht. Also setzte er sich in der Nacht - bewaffnet mit einem angespitzten Bleistift - regungslos vor den Teller und wartete.
Er warte mit einer eisernen Disziplin, die ihm sonst völlig fremd war.
Dann war es so weit - ein Mäuschen kam auf den Teller gekrabbelt und machte sich an den Keksen zu schaffen. Da durchfuhr den jungen Holunder eine unheilige, brennende Wut, mit ganzer Kraft stieß er zu und durchbohrte die arme, kleine Maus von oben mit dem Bleistift. Auf seinem Nikolausteller! Im gleichen Augenblick zog es seinen Blick wie magisch zum Fenster. Und er erstarrte. Seine Haare sträubten sich und sein Herz setzte aus: Von außen durch das Fenster sah der leibhaftige Nikolaus herein, und er weinte bitterlich um die Maus.
"Seit dieser Nacht bin ich ein guter Mensch", schloss Holunder seiner Erzählung, doch Corinna S. konnte es nicht mehr hören. Sie war schon vor der Mäusemord-Schilderung davongelaufen. So etwas will doch niemand hören. Oder lesen. Und wenn Corinna S. nicht angehalten hat, dann rennt sie noch heute.
CORINNA STEGEMANN
MÄRCHENFragen zur Maus? kolumne@taz.de Morgen: Jörn Kabisch über DAS GERICHT
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