Kolumne Ich meld‘ mich: Bulgarische Szenen
In den Rhodopen vergeht die Zeit langsamer. Das wissen alle hier, die Alten, die Anabolika-Männer und auch der Junge mit der Nelke in Zellophan.
A ls die Zeit einmal durch Bulgarien reiste, machte sie auch in Devin in den rhodopischen Bergen halt. Sie setzte sich auf die Terrasse des Spa-Hotels, bestellte ein Kamenitza-Bier, atmete tief durch und ging in sich. Ab sofort, beschloss sie, würde sie kürzertreten. Zurückschalten, zwei, drei Stufen mindestens. Und sofort ging das Leben in der Fußgängerzone und in der Stadt einen anderen Gang.
Die beiden Männer mit den Anabolika-Muckies und dem düsteren Gestrüpp im Gesicht schnupperten lange genüsslich dem Duft der blühenden Linden hinterher. Mercedes-Taxis verwandelten sich in gelbe Fiat Puntos – immer noch fix genug, sollte doch mal jemand drängeln. Der Junge mit dem gegelten Schopf wartete geduldig mit einer Nelke in Zellophan auf seine Angebetete: Kommt sie nicht heute, kommt sie morgen.
Zwischen den Rabatten mit Tagetes und Petunien zogen die beiden übergewichtigen Mütter mit den Kinderwagen ihre Runden und mussten und mussten nicht nach Hause. Der Polizist vor dem „Nightclub Royal“ rauchte genüsslich eine Zigarette und telefonierte entspannt mit seiner Geliebten: Passiert doch eh nichts mehr hier heute. Und die alten Männer saßen noch unbeweglicher vor der Tafel mit den Todesanzeigen und diskutierten noch gelassener, wessen Foto wohl als Nächstes auf der Wand hinter ihnen auftauchen würde.
Nur die junge Kellnerin in den weißesten Stiefeln und den engsten Jeans von ganz Devin trommelte ungeduldig mit den Fingern und wünschte sich weit, weit, weit weg. Aber schon summte ein Handy und die Zeit schreckte hoch.
Paris verlangte nach Tempo, London bat dringend um Eile, Berlin forderte eine Extraportion Hektik. Beschleunigung bitte! Vor lauter Stress, ihren Pflichten nachzukommen, vergaß sie ganz, die beiden Gänge wieder hochzuschalten. Und seitdem ist es so in Devin, mit den Kinderwagenmüttern und dem Polizisten und den alten Männern. Und es wird so bleiben, bis sie sich erinnert, dass sie noch etwas nachzuholen hat in Devin, in den Rhodopen, die Zeit.
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