Kolumne Ich meld' mich: Rostbraten mit Schinken und Setzei
Einst gab es bordeauxrote Polstersessel, rot bespannte Tischleuchten und rote Papierservietten und es wurde viel geredet und getrunken.
Im Zug von Prag nach Hamburg bringt der Kellner die Halbe „Staropramen“, und plötzlich überkommt es mich wie ein Déjà-vu: Das kennst du. Hier warst du schon. Mehr als 20 Jahre ist es her. Statt der Sitze mit dem Raupenmuster gab es damals bordeauxrote Polstersessel, rot bespannte Tischleuchten und rote Papierservietten. Das Bier war Budweiser. Der Zug hieß EC 176 „Porta Bohemica“.
Am späten Freitagnachmittag kam er von Prag nach Berlin-Zoo und fuhr 17.46 Uhr weiter nach Hamburg. Er hatte den schönsten Speisewagen der Welt – wenn der nicht wieder mal wegen technischer Probleme in Tschechien zurückgeblieben war. In Berlin stiegen Hundertschaften jener Nachwendehelden ein, die fünf Tage lang von der neuen Hauptstadt aus den Osten umbauten und übers Wochenende nach Hause fuhren. Im Speisewagen trafen sie zusammen. Architekten, Rechtsanwälte, Makler, Journalisten.
Man trank Bier und bestellte Borschtsch oder „Rostbraten mit Schinken und Setzei, garniert, Bratkartoffeln“ für 332 Tschechische Kronen, 138 österreichische Schilling oder 19,50 Mark. Es schmeckte nach Streuwürze und Sauergemüse. Der halbe Liter Budweiser kostete 3,50. Nauen, Wittenberge, Ludwigslust zogen vorbei. Satzfetzen flogen durch den Raum, untermalt vom Fahrgetöse. „… mal gezeigt, wie man die rannimmt“ – „… Ekelpaket von Wendehals“ – „… und hab ihm noch eine Sterbeversicherung untergejubelt“.
Die Kellner, oft war es auch nur einer, liefen und schwitzten. Manche Gäste lasen, Wochenpost oder Wirtschaftswoche. Langsam dunkelte es draußen. Die roten Lampen gaben warmes Licht. Und mit jeder Viertelstunde wurde es lauter, heißer, verrauchter. Immer wieder mal hielt der Zug auf offener Strecke und stand lange still.
Heute fährt er zügig durch. Drei Dutzend Windräder rauschen am Fenster vorbei. Kraniche stehen auf einem Feld, wie damals. „Die Fahrkarten, bitte“, sagt die Schaffnerin. Die Frau am Nebentisch, die ein Manga-Comic liest, holt ihr Handy heraus und lässt ablesen. Das gab es damals auch nicht.