Kolumne „Heult doch!“: Spießig sind die anderen
Als der große Sohn unserer Autorin schulpflichtig wurde, ist sie umgezogen, vom Wedding nach Pankow – mitten rein in den Polyesterpullover-Sperrbezirk.
D rei Laufradminuten von unserer Wohnung entfernt gibt es einen netten Spielplatz. Die Kinder dort haben im Winter alle die gleichen Schneeanzüge von dieser teuren finnischen Marke an, und jetzt, im Frühjahr, rollern sie alle mit den gleichen Laufrädern eines deutschen Herstellers vor. Ihre Eltern sind Lehrer, Juristen, Architekten, Ärzte, und wenn sie prekär beschäftigt sind, dann wenigstens kreativ. Die Smalltalk-Themen: der Job (selbstverständlich hat man einen), die Grundschule im Kiez („Taugt die denn was?“), die Nanny („Taugt die denn was?“), Kita-Klein-Klein („Ich hab gehört, die nehmen sogar schon die Zweijährigen mit auf Kitafahrt!“).
Nirgendwo wird das soziale Kastensystem krasser sichtbar als im großstädtischen Sandkasten. Zeigt her eure Stoffwindelhosen (oder eure KiK-Pullover) – und ich sage euch, ob ihr später auf die Grundschule im zwar hippen, aber armen Kiez geht oder rechtzeitig dorthin umzieht, wo „die Mischung stimmt“.
Als der Große, er ist jetzt sieben, schulpflichtig wurde, sind wir von Wedding nach Pankow gezogen. Mitten hinein in den Polyesterpullover-Sperrbezirk. Offiziell sind wir umgezogen, weil wir ein Kinderzimmer mehr wollten, für den Kleinen, der inzwischen zwei ist. Tatsächlich sind wir umgezogen, weil wir Schiss hatten, den Großen in eine der Grundschulen im Soldiner Kiez einzuschulen. Mein Mann hatte mit einer Weddinger Lehrerin gesprochen, die ihren Job zum Kotzen fand. Danach war die Sache für ihn durch.
Dabei sind die Schulen im Soldiner Kiez gar nicht so übel: Mein erster Text für diese Zeitung handelte von einer (Akademiker-)Elterninitiative, die ihre (deutschen) Kinder im Kiez einschulen lässt. Obwohl 90 Prozent der Schüler dort Migrationshintergrund haben und trotz der vorherrschenden Annahme unter (kiezflüchtigen) Eltern, dass die Lehrer hier vor allem damit beschäftigt seien, die Kinder vom Prügeln abzuhalten.
Das Bauchgefühl sagt: Pankow
Ich hatte für meinen Text mit Schulleitungen gesprochen, die einige Vorurteile wieder geraderückten, und diagnostizierte allen wegziehenden Eltern ein ungesundes Maß an Irrationalität. Sie würden nur auf ihr Bauchgefühl achten und den Kopf ausschalten. Zwei Jahre später schalteten wir den Kopf aus und zogen nach Pankow.
Doch selbstverständlich galt dabei: Spießig sind immer die anderen.
Ich bekomme mitunter Zweifel, ob ich nicht unfair bin. Ein Treffen mit S. auf dem Spielplatz richtet meine Feindbilder wieder auf. S. verbietet ihrem Sohn, der in derselben Klasse ist wie der Große, auf den Geburtstag von M. zu gehen. M. ist, zusammen mit L., so etwas wie der Quotensozialfall an unserer Schule. Die beiden tragen manchmal Jogginghose in der Schule und verprügeln sich ab und zu gegenseitig ein bisschen. S. hegt außerdem den Verdacht, dass „der M. den Nachmittag vorm Fernseher hängt“. Deshalb darf ihr Sohn auch nie zum Spielen zu M.
Jetzt steht S. auf dem Spielplatz und ist ernsthaft besorgt. Ihr Sohn hat eine Geburtstagseinladung von M. bekommen und will natürlich hin. S. muss ihm erklären, warum das nicht geht. „Das macht mir alles schon Sorgen“, sagt S. Ich hoffe kurz, sie meint die Unterhaltung, die wir gerade haben. Aber nein, dass ihr Sohn überhaupt eine Einladung von M. bekommen hat, bereitet ihr Kopfzerbrechen. „Mit wem spielt der denn auf dem Schulhof?!“
„Warum bist du so verspannt?“
Am Abend bringt auch der Große eine Einladung zu M.s Geburtstag nach Hause. „Unser Sohn geht da auf jeden Fall hin“, rufe ich, als ich nach Hause komme, und halte meinem Mann die Einladungskarte unter die Nase. „Ja, klar“, sagt er, und schaut mich etwas besorgt an. „Und warum genau bist du jetzt so verspannt?“ – „Verspannt? Wenn hier einer locker ist, dann ich! Geh du bloß mal auf den Spielplatz und unterhalt dich mit S.“, sage ich.
Mein großer Sohn war auf dem Geburtstag. Er hat genervt die Augen verdreht, als ich ihn gefragt habe, was sie denn so gemacht haben. „Wir haben Kuchen gegessen und gespielt.“ Klar, blöde Frage. Was man eben so macht auf einem Kindergeburtstag.
Der Sohn von S. war nicht da.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Pressefreiheit unter Netanjahu
Israels Regierung boykottiert Zeitung „Haaretz“
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid
Twitter-Ersatz Bluesky
Toxic Positivity