Kolumne Gott und die Welt: In anderer Verfassung
Kann es einen europäischen Verfassungspatriotismus in Deutschland geben? Überlegungen anlässlich dreier wichtiger Daten im Mai.
Der Wonnemonat Mai konfrontiert das Volk der Bundesrepublik in diesem Jahr mit mehreren bedeutsamen Terminen: der Europawahl am 26. Mai, der Erinnerung an die Gründung des Europarats vor 70 Jahren sowie dem Gedenken an die Verabschiedung des Grundgesetzes vor 70 Jahren am 23. Mai 1949 durch den Parlamentarischen Rat in Bonn.
Es war der eher konservative Politikwissenschaftler Dolf Sternberger (1907–1989), einer der Begründer der deutschen Politikwissenschaft nach dem Kriege, der den Begriff des „Verfassungspatriotismus“ prägte, einen Begriff, den später der Philosoph Jürgen Habermas offensiv aufgenommen hat.
Der „Verfassungspatriotismus“ sollte ein Gegenentwurf zum Nationalismus sein, das heißt das ebenso fröhliche wie mutige Eintreten für die Prinzipien des Grundgesetzes, vor allem und in erster Linie für die „Würde des Menschen“, die gemäß Artikel 1 „unantastbar“ ist. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
Dieser Artikel geht unter anderem auf die Erfahrung der Schoah zurück: In dem nüchternen Bericht Primo Levis über seine Haft in Auschwitz wird der Erfahrung absoluter Entwürdigung Rechnung getragen: „Mensch ist“, notiert Levi kurz vor der Befreiung des Lagers, „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als … der grausamste Sadist.“
Und weiter: „Ein Teil unseres Seins wohnt in den Seelen der uns Nahestehenden: darum ist das Erleben dessen ein nicht-menschliches, der Tage gekannt hat, da der Mensch in den Augen des Menschen ein Ding gewesen ist.“
Entsprechen Staatsvolk und Bevölkerung der Bundesrepublik diesem Verfassungspatriotismus? Dass hier Skepsis geboten ist, haben die – mehrdeutigen – Ergebnisse der soeben publizierten „Mitte-Studie“ gezeigt: Obwohl der größte Teil des Staatsvolks zwar die Demokratie bejaht, halten doch beinahe 50 Prozent Verschwörungstheorien für grundsätzlich plausibel.
Aus diesen Ergebnissen lässt sich jedoch nicht schließen, dass eine auch nur numerische Mehrheit in dem Sinne verfassungspatriotisch denkt. Im Gegenteil: In seinen Studien zu „Autoritären Versuchungen“ belegt Wilhelm Heitmeyer, dass „der autoritäre Kapitalismus durch die ‚Landnahme des Sozialen‘ (…) die sozialen Desintegrationsprozesse weiter verstärken wird, mit verheerenden Folgen für schwächere Gruppen in der Gesellschaft“.
Zu alledem kommt, dass sich gerade das Staatsvolk oder – was nicht dasselbe ist – die Bevölkerung seit Verabschiedung des Grundgesetzes dramatisch verändert hat. Angesichts des Umstandes, dass mittlerweile 25 Prozent – 20 Millionen Menschen – der deutschen Bevölkerung Migranten sind, wie es der Historiker Jan Plamper schreibt, durchaus von einem „Neuen Wir“ sprechen. (Anm. d. Red.: Plamper meint die Menschen, die gemeinhin als „Menschen mit Migrationshintergrund“ bezeichnet werden).
Plamper plädiert in seinem soeben erschienen, gleichnamigen Buch für eine neue kollektive Identität, „die eine stärkere emotionale Bindefestigkeit besitzt als die Liebe zum Grundgesetz“. Das ist illusorisch: war es doch schon im späten 19. Jahrhundert der Soziologe Ferdinand Tönnies, der kategorial zwischen „Gesellschaft“ und „Gemeinschaft“ unterschied.
Spätestens 1933 zeigte: Es war nicht nur ein Kategorienfehler, sondern ein totalitärer Irrtum, die Bevölkerung Deutschlands – seine „Gesellschaft“ – zu einer mehr oder minder intim verbundenen „(Volks)gemeinschaft“ umformen zu wollen.
Die Deutschen, verfassungspatriotische Europäer? Der 26. Mai wird zeigen, wie weit das neue deutsche Volk dieser Vorstellung entspricht.
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