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Kolumne GerüchteWortakrobaten in Amtsstuben

Deutsche Beamte sind Sprachkünstler: sie finden selbst für die einfachsten Dinge des Lebens einen komplizierten Ausdruck.

W arum ich in letzter Zeit so gerne nach Leipzig fahre, hat einen einfachen Grund. Sobald ich das Stadtgebiet erreicht habe, lasse ich das Auto stehen und warte ungeduldig auf die nächste Straßenbahn. Denn nur in Leipzig gibt es Straßenbahnen mit gelben Knöpfen und den Hinweisschildern: "Vor dem Aussteigen Fahrgastwunsch betätigen". Dann, endlich, kommt sie und ich drücke den Knopf und stelle mir vor, dass irgendwo bei den Leipziger Verkehrsbetrieben ein Mensch sitzt, der dieses Drücken und mich versteht: meine Fahrgastwünsche, ja eigentlich alles, was mich innerlich bewegt.

Allein die Hoffnung auf Erfüllung aller meiner Wünsche durch die Betätigung eines kleinen gelben Knopfes macht mir gute Laune und so möchte ich seit Langem demjenigen Sprachkünstler bei den Leipziger Verkehrsbetreiben an mein kleines rotes Herz drücken, dem es gelungen ist, aus einer banalen Aufforderung wie "stopp!" ein ganzes Universum entstehen zu lassen. Wusste er in jenem Moment, als er diesen Satz erfand, was er tat? Oder war es eine Frau, die in ihrem Büro saß vor Fahr- und Dienstplänen und sich mit ihren geheimsten Wünschen allein fühlte?

Ich bin mir sicher, in vielen deutschen Amtstuben sitzen solche Menschen, deren Kreativität nicht in ausreichendem Maße gefordert und gefördert wird. Ihre einzige intellektuelle Überlebenschance besteht darin, sich Gedanken zu machen über die Komplexität des Banalen. Nur einen Tag lang möchte ich beispielsweise in das Stammhirn jenes Beamten im baden-württembergischen Kultusministerium kriechen und mich dort bei seinen grauen Gehirnzellen umschauen, der die drei Buchstaben GFS erfunden hat.

GFS ist an baden-württembergischen Gymnasien der Begriff für ein selbstständig gehaltenes Referat. Man sagt aber nicht Referat oder Hausarbeit dazu, sondern GFS. Ein Ministerialdirigent oder sei es auch nur ein Oberregierungsrat gewesen, der ein banales Referat in "gleichwertige Feststellung von Schülerlernleistung", kurz GFS übersetzt, hat den Büchnerpreis verdient.

Bild: taz

PHILIPP MAUSSHARDT ist Autor der taz.

Insofern bin ich gar nicht damit einverstanden, dass die FDP jetzt die Steuergesetzgebung vereinfachen möchte. Das hieße doch, dass auch viele Bestimmungen, Verordnungen und Erlasse nicht mehr von deutschen Beamtendichtern besungen werden könnten, wenn Sätze wie dieser nicht mehr geschrieben werden könnten: "Die Abnahmetage werden vom ersten Abfertigungsbeamten nach den Richtlinien des Bundesmonopolamts und nach Anhörung des Brennereibesitzers mindestens für einen Monat und so rechtzeitig im voraus bestimmt, dass bei den Brennereien, die den Branntwein abliefern, die zu dessen Versendung erforderlichen Gefäße rechtzeitig von der Bundesmonopolverwaltung bereitgestellt werden können." Man fragt sich bei diesem wunderschönen Satz aus der Deutschen Brennereiordnung nur: Wer war betrunkener? Der Brennereibesitzer oder der Abfertigungsbeamte?

Mein absoluter Lieblingssatz der deutschen Amtsdichtung findet sich in der besagten Brennereiordnung wieder, in der es heißt: "Auch darf die Schlempe in der Blase erwärmt werden." Wer jetzt noch behauptet, die deutsche Bürokratie sei kalt, hat keine Ahnung. Wir alle wollen doch nur die Schlempe in der Blase erwärmen. Auch die Pensionsberechtigten unter uns.

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Philipp Mausshardt
Journalist, Mitbegründer der Zeitenspiegel-Reportageschule, hält Brandenburg für die neue Toskana.

2 Kommentare

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  • V
    vic

    "die Schlempe in der Blase erwärmen"

    Logisch, bin dabei;)

  • M
    martimou

    ...was will man schon von einem Volk erwarten, dass in seiner Geschichte so hübsche Begriffe wie "Reichsfluchtsteuer", "Straßenbenutzungsgebühr" und "Isolationsfolter" erfunden hat...?