Kolumne Gerüchte: Gute Nacht in Hermannstadt
Es ist ein nie endender Albtraum: Jede Nacht fallen tausende Männer durch die Führerschein- oder Abiturprüfung.
E s gibt zwei Arten von Albträumen, die mich plagen. Beide haben mit fallen zu tun. Im ersten falle ich ungebremst von einem hohen Punkt in Richtung Erde oder Meer und weiß, dass mein kleines Leben mit dem unvermeidlichen Aufprall in wenigen Sekunden zu Ende gehen wird. Es ist die angenehmere Variante der beiden Träume. Bei der anderen wache ich schweißgebadet auf, weil ich wieder einmal durch das Abitur gefallen bin. Ich muss mich dann erst ein paar Minuten beruhigen und mir sagen: "Philipp, ganz ruhig, du hast das Abitur, zwar kein glänzendes, aber du hast es. Du hast es schon 33 Jahre lang, es kann dir keiner mehr nehmen."
Damit bin ich offenbar nicht allein. Ich kenne alte Herren, die noch immer regelmäßig träumen, sie fallen durch die Prüfung. Mal ist es der Führerschein, mal das Abitur, mal das Staatsexamen oder die Promotion. Dieses "nicht bestanden" schleicht sich Nacht um Nacht in tausende von schlafenden Gehirne und quält sie. Mir scheint, es ist vor allem ein männliches Phänomen. Durchfallen, nicht bestehen, versagen. Bei Männern wiegt das möglicherweise schwerer als bei Frauen.
Es gab schon schlimme Morgen, da habe ich in den Schreibtischschubladen nachgeschaut, ob ich mein altes Abi-Zeugnis noch finde. So unsicher hatte mich die Nacht entlassen. Und ich hatte mir ernsthaft überlegt, das DIN-A4-Blatt mit der Durchschnittsnote 3 mir über mein Bett zu hängen, so wie man in Transsilvanien, der Heimat von Graf Dracula, Knoblauchzehen gegen Vampire über den Türsturz nagelt. Ich habe es dann doch gelassen, es wirkt auf Besucher im Schlafzimmer dann doch vielleicht etwas albern.
Tatsächlich haben in meinem Jahrgang und in meiner Klasse alle Schüler die Abiturprüfung bestanden, und das, obwohl es sich damals noch um eine echte Prüfung handelte. Da konnte man nicht wie heute jahrelang Punkte ansammeln, wie bei einer Payback-Karte, um sich gegen das Durchfallen abzusichern. Eigentlich kann man heute in Deutschland gar nicht mehr durchfallen, es sei denn, man ist wirklich grenzdebil oder wohnt in Bayern.
Ich konnte daher die Meldung in der Hermannstädter Zeitung zunächst gar nicht glauben, die ich dieser Tage in einem Café der Stadt las. Hermannstadt, für alle, die kein Abitur haben, ist eine Stadt in Rumänien, die heute Sibiu heißt, in der aber noch immer eine stattliche Zahl von deutschstämmigen, sogenannter Siebenbürger Sachsen leben. Eben in jener Zeitung stand am 8. Juli die unfassbare Nachricht, dass in diesem Jahr "knapp 45 Prozent der Abiturienten die Prüfung bestanden" haben. Das hieße ja, rechnete ich aus, dass 55 Prozent aller Abiturienten durchgefallen sind. Es kam aber noch dicker: An 23 Gymnasien in ganz Rumänien sind ausnahmslos alle Schüler durchgefallen, und mehr als 900 Schüler, so las ich weiter, wurden beim Abschreiben und Täuschen erwischt. Sie dürfen darum erst in zwei Jahren wieder zur Prüfung antreten.
Manchmal tut es gut, über Grenzen zu fahren. Ich habe selten so gut geschlafen, wie in der folgenden Nacht in Hermannstadt.
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