Kolumne Geht's noch: Am wächsernen Faden
Zahnseide benutzen bringt nichts? Drei, zwei, eins – Glaubenskrieg. Diese Flucht ins Interdentale ist einfach nur eines: jämmerlich.
E in Knaller, den sie alle brachten, von New York Times über Spiegel Online bis zur Apotheken Umschau: Zahnseide bringt gar nichts. Also, vielleicht. Die Nachrichtenagentur AP hatte investigativ (also unter Berufung auf Informationsfreiheitsgesetze) herausgefunden, warum Zahnseide stillklammheimlich von der Liste der offiziellen Gesundheitsempfehlungen der US-Regierung gestrichen worden war. Nämlich, weil es für den Nutzen von Zahnseide einfach zu wenig Beweise gebe.
Juchei, sparen wir uns doch dieses würdelose Zahnzwischenraumgepopel, feierten die einen – sind doch die Fadenbefürworter-Studien eh von Johnson&Johnson und Colgate Palmolive finanziert. Was natürlich sofort die Gegenseite zum Entrüsten einlud: Die Mundgesundheit hänge doch am vollgespeichelten Faden. Oder zumindest an der Interdentalbürste.
„Die Wissenschaft hat festgestellt, festgestellt, festgestellt“ sangen schon in den Achtzigern die Kinder – dass Margarine Koks enthält, Knackwurst Pferdefleisch, Sie erinnern sich vielleicht. Botschaft an den Nachwuchs: Studien sind im Zweifel Bullshit. Trauen kann man nur den Statistiken, die man selbst gefälscht hat. Wen wundert es da noch, dass von Impfgegnern bis zu Trump-Anhängern jeder irgendwelche Zahlen für das findet, was er halt meint?
Rotes Fleisch schlimm, Rotwein gut fürs Herz, ach nein, doch nicht. Mundspülung genauso wirksam wie Zahnseide – obwohl, Moment, diese Studie war ja von einem Mundwasser-Hersteller finanziert. Gerade wenn es um Gesundheit und Ernährung geht, gibt's für jeden Lebensstil passende Zahlen, die man sich prompt aus dem Arsch ziehen kann, um faktisch recht zu haben. Übertrieben? Nicht, wenn man einer Studie glaubt, laut der 58 Prozent aller medizinischen Studien in den USA von der Industrie gesponsort werden. Oder dieser hier: 85 Prozent aller industriefinanzierten Studien schmeicheln den untersuchten Produkten.
Egal welcher Konfession Sie in Ihrem persönlichen Kampf gegen Zahnbelag auch anhängen, ist es doch eine Wohltat, sich mal über ein so wenig bedrohliches Thema zu erregen – ein Thema, das man selbst in der Hand hat, während die Grauenhaftigkeit des Weltgeschehens wie Plaque auf der Seele lastet.
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