Kolumne Fußball im Eishockeyland: Blöde Fragen
Es gibt keine dummen Fragen. Es gibt aber vielleicht zu viele Fragen. Jedenfalls derzeit in Montréal. Jazz oder Fußball, das ist hier nicht die Frage
S eit Wochen hängt um meinen Hals ein rotes Band, an dem eine Plastikkarte baumelt. Vor ein paar Tagen hatte ich es zum Schlafen mal ausgezogen und vergessen, es wieder anzuziehen.
Im Stade Olympique in Montréal lassen mich am Tag vor dem Viertelfinale deswegen die Menschen, die zu den Plastikkarten auch noch das passende T-Shirt tragen, nicht auf die Pressekonferenz. Stattdessen medusische Blicke, die mindestens Fifa-Gefängnis bedeuten. Nein, man könne die Akkreditierung nicht nochmal ausdrucken. Warum? Darum. Und wenn mir jemand dieses Dings gestohlen hätte? Noch medusischere Blicke. Fifa-Fegefeuer. Lebenslang. Mindestens.
Im Centre-Ville, auf der Rue Sainte Catherine stehen am Abend nach dem Spiel Tausende ohne Plastikkarte vor einer Leinwand. Die mit den Plastikausweisen, die nicht an roten, sondern an schwarzen Bändern baumeln, wuseln überall rum, halten Mikrofone vor Münder und notieren Dinge, die aus ihnen kommen. Die Übertragung des Viertelfinals Deutschland-Frankreich ist es nicht, was die Leute angucken.
Es ist die Band Beirut, die das größte Jazzfestival der Welt eröffnet. Seit fast vier Wochen fahre ich durch dieses Land und frage jeden Dahergelaufenen, „Wo kommen Sie her?“, „Gucken Sie Fußball?“. Jetzt werde ich von Leuten mit Plastikkarten an Bändchen ständig gefragt: „Wo kommen sie her?“, „Hören sie Jazz?“
Mitten in der Menge steht Marcel und hält ein Schild hoch: „Bravo Obama. 26.6.2015“. Gucken Sie Fußball? „Eh? Non, Je suis Quebecois.“ So wie die Quebecianer seien auch die Homosexuellen eine bedrohte Minderheit. Der heutige Tag sei ein guter Tag. „Und dass Frankreich heute verloren hat, ist egal?“ „Frankreich?“ „Ich hätte gedacht, als Quebecois...“. Ach, lassen wir das.
Ein bisschen abseits von dem Riesentrubel, auf der Rue St. Denis vor dem Bistro à Jojo. Drinnen spielt eine Bluesband und draußen die taz. Der auf der Straße lebende Guy, der den Gehweg zwischen den voll besetzten Stühlen für ein bisschen Trinkgeld fegt, hat etwas auf dem Hintern seiner Jogging-Hose, das aussieht wie die taz-Pfote. „Deutsche Zeitung? Ich kenne nur deutschen Hitler.“ Und Fußball? „Je suis Quebecois. Fuck soccer.“
Aus dem gerade mal 200 Kilometer entfernten Ottawa sind die ersten Team-USA-Fans in Montréal angekommen. Jazz-Festival? „Hahaha. No. We are Americans.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin