Kolumne Familie und Gedöns: Über das Verschwinden im Alter
Mit gerade einmal Mitte dreißig fühle ich mich alt. Eine zufällige Begegnung beim Arzt zeigt, die Angst vor dem Älterwerden ist begründet.
E in routinemäßiger Arztbesuch. Neben mir eine alte Frau. Teilnahmslos, in sich zusammengesunken, das Haar lieblos kurzgeschnitten, sitzt sie da, während die sie begleitende Pflegerin sogleich das Gespräch mit anderen sucht.
Älterwerden – dieses Thema beschäftigt mich seit Wochen. Auch wenn es mit Mitte 30 einigermaßen absurd erscheinen mag, komme ich mir immer öfter alt vor. Befeuert wird dieses Gefühl durch das Nineties-Revival in der Mode. Bauchfreie gehäkelte Tops, Mom-Jeans, Spaghettiträgerkleidchen – zum ersten Mal erlebe ich, wie Dinge, die ich als Teenager getragen habe, ihren Weg zurück in die Filialen der großen Modeketten finden.
Ich ertappe mich bei dem Versuch, jung auszusehen, ohne mich an Zwanzigjährige anzubiedern. Nicht nur der Blick in den Kleiderschrank, auch der in den Spiegel wird länger. Kritischer. Mit quasi-religiöser Hingabe klopfe ich Creme auf die Fältchen um meine Augen.
Für ein bisschen straffere Haut wünschst du dir doch nicht ernsthaft die Dramen der Pubertät oder das quälende Wer-bin-ich-was-will-ich mit Mitte 20 zurück, ruft die feministische Stimme in mir. Hör auf, dich lächerlich zu machen, und nimm die Falten an.
Im Rahmen der „Zukunftswerkstatt“ der taz erscheint jeden Freitag statt der Neuland-Seite eine eigene Seite für Leipzig, die taz.leipzig: geplant, produziert und geschrieben von jungen Journalist*innen vor Ort.
Sie haben Anregungen, Kritik oder Wünsche an die Zukunftswerkstatt der taz? Schreiben Sie an: neuland@taz.de. Das Team der taz.leipzig erreichen sie unter leipzig@taz.de
Doch in einer Gesellschaft, in der Jugendlichkeit mit Sexualität, Kreativität und Innovation gleichgesetzt und noch das banalste Produkt mit jungen Menschen in erotisch aufgeladenen Posen beworben wird, ist das leichter gesagt als getan.
Die Pflegerin regt sich mittlerweile lautstark über die anstrengenden Alten im betreuten Wohnen auf. Ständig verschütteten sie etwas, versuchten abzuhauen und beim Gang auf die Toilette müssten sie sich ja nicht auch noch absichtlich schwer machen.
Die Frau neben mir hebt bei diesen Worten nicht einmal den Blick. Die Pflegerin spricht weiter, als sei sie gar nicht da. Und ich realisiere: Hinter meiner Abneigung gegen das Älterwerden steckt mehr als die Sorge, nicht mehr jung, sexy und begehrenswert zu sein. Es ist die Angst, irgendwann von niemandem mehr wahrgenommen zu werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn