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Kolumne ESC in Tel Aviv #6Diese Stadt schluckt alle

Jan Feddersen
Kolumne
von Jan Feddersen

Noch ist nicht viel los in Tel Aviv. Der Eurovision Song Contest bleibt aber eine Goldmarke, die sich die Stadt viel kosten lässt.

Beim Halbfinale sieht es gar nicht so leer aus, das Grand Final ist aber noch nicht ausverkauft Foto: dpa

E s war kein wirklich hartes Rennen um den Ort dieses ESC in Israel. Haifa hätte das Sammy-Ofer-Stadion zu bieten gehabt, einige Zehntausend zu verkaufende Plätze wären dies gewesen – aber die Arena von HaPoel und Maccabi Haifa wäre zu überdachen gewesen: Das war dann zu teuer.

Jerusalem war schnell aus dem Rennen, weil die dortige Halle zwar größer als die in Tel Aviv ist, aber die Hauptstadt des Landes wäre zum üblichen freien „Sonntag“ der Woche, am Schabbath, wirklich zur stummen Stadt geworden. Man hätte dort keine Generalprobe am Freitagabend vor dem Finale veranstalten können: Die religiösen Kräfte Jerusalems signalisierten früh, dies nicht dulden zu wollen. Der Schabbath sei heilig und der Freitag für ein europäisches Ding nicht verhandelbar.

Tel Aviv hatte somit alle Trümpfe auf der Hand: ein Messezentrum, eine laxere Schabbath-Handhabung, Shuttle-Busse zum ESC-Ort werden gewährleistet und es gibt Hotelkapazitäten im Überfluss. In Goldgräberstimmung ging man also in der Stadt zu Werke. Und merkt nun, dass gar nicht Hunderttausende angeflogen kommen, sondern nur 15.000. Genaue Zahlen weiß man nicht, weil ESC-Tourist:innen auch gern an den Gastgeberort für ein Public Viewing fahren. Es müssen keine Hallentickets sein.

Inzwischen merkt man auch, dass in die Metropole mit schönstem Stadtstrand des Mittelmeeres sowieso Hunderttausende kommen. Ob wegen Israel (Bildungstourist:innen), wegen der Partys (Hipster:innen) oder weil hier so schön die Sonne scheint. Es ist noch nicht brütend heiß im Mai und nicht mehr kühler Spätwinter.

So fallen die Eurovisionsmühen zwar im Stadtbild auf, aber sie dominieren nicht. Am Strand sind seit Mittwoch morgen Sonnensegel in Orange aufgebaut, die vielleicht einem Leuchtmittelhersteller geschuldet sind oder einer Firma, die ein beliebtes Nachmittagsgetränk herstellt, Aperol: Hey, mit uns muss Sonnenbrand nicht sein.

Tel Aviv ist auch eine Desillusion

Und am Charles Clore Park – an der Naht zwischen dem neuen Tel Aviv und dem alten Jaffa – ist ein Eurovision-Village aufgebaut, ein Volkspark für alle, der ausgesprochen gern von Tel Aviver:innen besucht wird. Am Donnerstagabend ist dort zur Einstimmung vor dem zweiten Semifinale eine illustre Garde israelischer ESC-Künstler:innen auf der Bühne. Aber auch einige internationale ESC-Stars sind mit dabei: Loreen, Ann-Marie David und Carola – Siegerinnen der Jahre 2012, 1973 und 1991.

Das Motto „Dare to dream“ („Sich trauen zu träumen“) scheint von vielen ESC-Tourist:innen freundlich genommen werden – und von den Einheimischen als Aufforderung, die Dinge zu nehmen, wie sie sind: als Feier des Abends, hier am Strand von Tel Aviv. Derweil versuchen die Veranstalter, die letzten Tickets für den Freitagabend zu verscheuern. Auch das Grand Final ist noch nicht ausverkauft: Strafe für die viel zu hohen Ticketpreise und für die Imagehavarie, als vor Wochen herauskam, dass Günstlinge der Tel Aviver Behörden und Sponsoren viele Tickets zu Vorzugspreisen bekamen.

So oder so: Tel Aviv ist auch eine Desillusion. Ein ESC braucht eine große Stadt für die Partys, für das begleitende Shopping und als Raum für Sponsorenabsichten. Kleine Orte, an denen einst ein ESC stattfand – Harrogate, Millstreet, Luxemburg (ohnehin nicht mehr dabei), Lausanne oder Bergen – sind passé. Wie bei Olympischen Winterspielen braucht es Metropolen – die haben das Umfeld für den ganzen Bohei drumherum. Tel Aviv freut sich über diese Entwicklung, man profitiert von ihr, weil die Stadt als Marke bekannt wird.

So wie Estland niemand kannte, ehe dort 2002 ein ESC ausgetragen wurde. Oder hatte jemand Kiew auf dem Schirm – nicht als Ort der Scharfschützen, sondern der Aufstände wider die postsowjetischen Regime? Der ESC bleibt eine Goldmarke, Tel Aviv lässt sich diese viel kosten.

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Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!
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