Kolumne Durch die Nacht: Kartoffeldeutsche Dreadlockträger
Beinahe 50 Jahre nach Woodstock scheinen Musikfestivals wieder echte politische Sprengkraft entwickeln zu können. Ist nur leider nicht immer erfreulich.
Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich zuletzt auf einem Musikfestival war, so richtig mit dem ganzen Programm von Zelten, Komasaufen, verkokelten Bratwürsten und auf den eigenen Schlafsack kotzen. Es war toll damals, ich erinnere mich an fast gar nichts mehr, was ein gutes Zeichen ist.
Erstaunlicherweise scheinen Festivals, beinahe 50 Jahre nach Woodstock, gerade wieder echte politische Sprengkraft entwickeln zu können, wenngleich vielleicht auch nicht so, wie sich das die Hippies damals erträumten. Im letzten Jahr war ich auf dem Berlin-Festival, wo ich ein Konsumbändchen ums Handgelenk gebunden bekam, in dem ein Chip auch durchaus persönliche Daten speicherte.
Da stand ich dann in der Schlange vor dem Dixie-Klo, als gläserner Mensch mit Druck auf der Blase. Das Berlin-Festival hatte plötzlich einen Ruf wie die NSA. Wer genau mit meinem Datensatz und den Informationen über mich (trinkt gerne Cola) nun wirklich reich wird, weiß ich nicht, das Berlin-Festival selbst hat jedenfalls direkt vorerst nichts von seinem digitalen Schatz, es findet dieses Jahr gar nicht statt.
Lollapalooza-Festival
Im Vergleich zu den aktuellen Debatten rund um das Lollapalooza-Festival, das in diesem Jahr zum zweiten Mal im September in Berlin statt finden soll, wirken die Befürchtungen rund um das Berlin-Festival aber beinahe drollig. Ich überlege jetzt sogar ernsthaft, selbst dort hin zu gehen, auch wenn der ganze Camping-Spaß bei so einem urbanen Event ja leider wegfällt. Weil: Den Treptower Park zerstören, dort in die Büsche pinkeln und die Totenruhe von irgendjemandem missachten, so wie es nicht bloß von Anwohnerinitiativen befürchtet wird, die sich angeblich um das Wohl des sowjetischen Ehrenmals vor Ort sorgen, das alles wollte ich schon immer mal tun.
Dafür würde ich auch das Konzert einer schrecklichen Band wie Radiohead in Kauf nehmen, die im Übrigen so politisch korrekt ist, dass sie vor dem Ehrenmal wahrscheinlich sogar einen Blumenkranz niederlegen wird. Und in die Büsche pinkelt von denen bestimmt auch keiner.
Doch nicht nur Berliner Spießbürger wollen keine ausrastenden Druffis mit nackten Oberkörpern – also typische Festivalbesucher – um sich herum haben. Auf der Fusion an der Müritz in Mecklenburg Vorpommern, zu der letztes Wochenende wieder halb Kreuzberg hinpilgerte, hingen natürlich ebenfalls nur solche Typen rum. Linke aus Berliner Wohnprojekten, die halt auch genauso aussahen. Aber selbst auf der Fusion können diese Leute guten Gewissens nicht mehr die Sau rauslassen und das genießen, was man früher einmal entspannte Festival-Atmosphäre nannte. Verkokelte Bratwürste essen übrigens auch nicht, die Verköstigung dort ist ausschließlich vegetarisch oder vegan.
Rassisten unserer Zeit
In der feministischen Zeitschrift Missy konnte man jetzt lesen, dass diese Fusion-Besucher allesamt Sexisten und Rassisten sind und ein paar echte Nazis sind auch drunter. Manche unter ihnen sind gar kartoffeldeutsche, weiße Dreadlockträger, die nicht einsehen wollen, dass sie ihre Haarpracht, abfällig auch Wursthaare genannt, einer lange Zeit kolonialistisch unterdrückten Kultur entnommen haben. Solche Leute, weiße Dreadlockträger, die Rassisten unserer Zeit, sind nun natürlich auch auf dem Lollapallooza zu erwarten, allein schon weil die zum Stamminventar eines jeden anständigen Festivals gehören.
Aber soll man diese nun ernsthaft in die Nähe des sowjetischen Ehrenmals lassen, diesem Symbol gegen den Faschismus? Also zumindest die Haare müssen vorher ab.
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