Kolumne Die eine Frage: Soll man Greta anbeten?
In den Stahlgetwittern der Mediengesellschaft ist immer Karneval. Ein Klo-Witz wird zum zivilisatorischen Rollback. Wie könnte es anders gehen?
D er Journalist Giovanni di Lorenzo sagte diese Woche zu Lanz, es gebe eine „riesige Sehnsucht nach einem Diskurs, der differenziert ist“. Lanz nickte, er nickt ja gern.
Die Sehnsucht der beiden teile ich. Leider sehe ich in der Medienrealität eine riesige gelebte Sehnsucht nach Entdifferenzierung.
„Es ist nur Karneval gewesen“, rief der Zeit-Chefredakteur fast flehentlich mit Blick auf die Büttenwitzversuche der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer. Aber in den Stahlgetwittern der Mediengesellschaft ist jeden Tag Karneval, da fällt diese Differenzierungsmöglichkeit schon mal aus. Also wird ein Klo-Witz sofort zum identitätspolitischen Rollback der ganzen Union in der Post-Merkel-Ära erklärt.
Und ein harmlos-dämlicher Spruch eines jungen Bundestagsabgeordneten aus einem östlich-ländlichen Wahlkreis, den dieser dankenswerterweise knapp gegen die AfD vereidigt hat, löst bei manchen Alarm aus, als wäre Tschernobyl ein zweites Mal explodiert. Auf der anderen Seite wird plötzlich die Schulpflicht am Freitagmorgen als weltweit wichtigstes Thema beschworen und der Humorstandort („humorlos, humorloser, am humorlosesten, Deutschland“) in seiner Gesamtheit abgeschrieben.
Ich weiß nicht, ob alle Leute das wissen, aber wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft der Individualisten. Es gibt Schwaben mit Humor, die keine Spätzle essen, CSU-Wählerinnen, die liberaler sind und ökologischer leben als Kreuzbergerinnen und sicher auch in Püttlingen die verschiedensten Lebensstile, Geschlechterentwürfe und Klos. Gruppenbezogene Feindzuschreibungen sollte man in jede Richtung sparsam einsetzen, wenn man nicht von einer dafür eingerichteten Kolumnistenstelle leben muss.
Latte-Macchiato-Feindbilder
Das Zweite, was ich als Faschingsveteran sagen muss: Karneval und Fasching sind nicht vollständig auf aufklärerischen Humor eines moralischen Weltbürgermilieus aufzubauen. Auf dem Land, von dem ich komme, schunkelten wir zu Songs wie „Die saudi-arabische Schwiegermama“, Betonung: „Die Sau, die“. Bombenstimmung in der Halle.
Also ja, es gibt qualitativ schlechten und diskriminierenden Humor. Aber es gibt auch souveränen und großartigen. Allerdings wurde der nach meinem Kenntnisstand in den letzten Tagen nicht eingesetzt. Für seinen Spruch von den Grünen, die einen „linksideologischen Umbau“ planten, könnte Christian Lindner maximal noch 20 Euro für einen Abdruck als Bild-Leserwitz bekommen, aber sicher ist nicht mal das.
Frauen, die bewegen
Es ist völlig klar, dass die Welt eines jungen, migrantischen, homosexuellen Menschen ohne Job anders aussieht als meine. Dennoch haben den entscheidenden Punkt an der AKK-Diskussion wie bei der Tempolimit- und Dieseldiskussion wieder alle Hyperventilierer verpasst: Selbst wenn Kramp-Karrenbauer strategische Ressentiments pflegen will, wendet sie sich an einen kleinen Teil, der halt zehn Jahre nach unsereins über Latte-Macchiato-Feindbilder lacht. Das wird schon. Das muss der Mainstream so souverän ins Leere laufen lassen wie „identitätspolitischen Furor“ (Welt). Unsere Zukunft entscheidet sich auch nicht an der Frage, ob man Greta als Ikone anbetet oder schmäht. Beides bringt überhaupt nichts voran außer einer Spaltung.
Der wirklich schlechte Witz ist, dass Teile der Union – und auch der SPD – sprechen, als hätten sie nichts mit allem zu tun, und ihre sozialökologische Politik wie auch ihre Gesellschaftspolitik den Grünen vorwerfen. Die schauen aber – noch schlimmer – seit dreizehn Jahren gemütlich zu. Vielleicht können wir ja wirklich mal im Sinne von di Lorenzo ein Gespräch mit dem liberal-europäischen Mainstream in Deutschland beginnen, über das was wirklich jetzt ansteht.
Nicht moralisch. Nicht kulturell. Sondern politisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“