Kolumne Die eine Frage: Es braucht SPD und Grüne nicht
Zu Kretschmanns Geburtstag ein Disput mit Habeck: Wie kann man radikale Zukunftspolitik entwerfen und gleichzeitig mehrheitsfähig werden?

A m Ende hängt der Bundesvorsitzende im Stuhl wie Ali in den Seilen von Zaire. Bumm, bumm, bumm prasseln die Sätze des Ministerpräsidenten auf ihn ein. Über Radikalität, die nichts bringt, über PC, die überzogen ist, über 8-Prozent-Irrelevanzparteien. Winfried Kretschmann, ein Saalmikro in der Hand, spricht jetzt nicht zu den ganzen geladenen Gästen in der Stuttgarter Staatsgalerie, er spricht zu Robert Habeck.
Und Habeck versucht die Sätze-Kanonade mit einem Dauerlächeln auszubalancieren und schweigt ansonsten. Zum einen gehört sich das. Schließlich ist auch er Gast einer Veranstaltung zur Feier von Kretschmanns 70. Geburtstag. Zum anderen hört er das nicht zum ersten Mal. Nur zum ersten Mal vor Publikum.
Der „Disput“ (Habeck) berührt die große Frage der Gegenwart: Wie gewinnt man Mehrheiten für eine Politik, die den zentralen Zukunftsfragen nicht ausweicht? Verkürzt: Habeck will angemessen radikale Antworten auf die radikalen Probleme geben. Und Kretschmann sagt: Mehrheiten gewinnt man durch Vertrauen, und Vertrauen gewinnt man durch eine Politik von Maß und Mitte.
Radikalität ohne Relevanz
Der Ministerpräsident erzählt immer gern die Story, wie er als verblendeter Westkommunist Mitte der Siebziger „auch mal radikal war“ und Arbeitern vor dem Fabriktor die Kommunistische Volkszeitung verkaufen wollte. „Aber die hat mir nie jemand abgenommen.“ Auch wenn an dieser Stelle in Stuttgart Europagrünenchef Reinhard Bütikofer „Das war bei mir anders“ dazwischenruft, Kretschmanns Conclusio ist nicht zu widerlegen: Radikalität ohne Relevanz ist eitler Gesinnungskonsum.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Damit hat Kretschmann – radikal – gebrochen. Und Habeck in Schleswig-Holstein in seinen sechs Regierungsjahren auch. Und jetzt ist die Frage: Was folgt daraus für den Bund und Europa? Die von Kretschmann zitierten „8 Prozent“ des „linken“ Kandidaten von 2013 hat der „Realo“-Kandidat 2017 im Promillebereich gesteigert (da half auch jeweils Frau Göring-Eckardt nicht). Die Erkenntnis kann also nur sein: Es geht weder so noch so.
Die Frage, wozu es die Grünen „noch“ braucht, ist sinnlos. Gleiches gilt für die SPD. Es braucht beide nicht. Wenn Ulf Poschardt eine neue SPD fordert, dann verstehe ich „SPD“ als Platzhalter für ein Vakuum. Was es braucht zur Verteidigung der liberalen Gesellschaft, ist eine progressive Kraft, die in der Lage ist, die unterschiedlichen Realitäten zusammenzubringen auf einer neuen sozialökologisch-europäischen Zukunftsplattform, die gleichzeitig das Gemeinsame und das Unterschiedliche betont. Das verlangt aber auch eine radikal andere Mediengesellschaft, in der nicht alle alles an Gestern messen und ihre Leidenschaft fast nur in Diskussion von Sprachvergehen und Personalkonflikten investieren.
In diesem alten Denken würde man jetzt ein Entweder-Oder zwischen Kretschmann und Habeck konstruieren. Kann so kommen, dann geht im Spätsommer die alte Grüne Chose weiter. Man kann aber auch das Potential dieses Duos und des Gegensatzes aus Mehrheit und Radikalität aufgreifen.
In einer Welt des „en meme temps“ bleibt nur die Idee von Emmanuel Macron, die scheinbar unvereinbaren Gegensätze gleichzeitig voranzubringen. Im Falle Europas also die Europäische Union und die Nationalstaaten. So könnte es also für die Bundesgrünen darum gehen, Vertrauen zu schaffen in radikalere politische Antworten, um so Maß und Mitte zu bewahren – und damit gleichzeitig die Relevanzlosigkeit von 8 Prozent zu überwinden und über Robert Habecks 16,5 bei der jüngsten Kommunalwahl in Schleswig-Holstein in Richtung von Winfried Kretschmanns 30 Prozent zu wachsen.
Das klingt sicher für manche fantastisch. Ist es auch. Und gleichzeitig realistischer als alles andere.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Trump macht Selenskyj für Andauern des Kriegs verantwortlich
Wahlarena und TV-Quadrell
Sind Bürger die besseren Journalisten?
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links