Kolumne Die eine Frage: Keine Moral durch Raushalten mehr
Wir Deutschen stehen in diesem Herbst vor einer Zäsur. Müssen die Grünen deswegen Kanzlerin Merkel verteidigen oder angreifen?
D ie Realität ist beschissen. Und der Diskurs erst recht. Es dominiert der linkskonservative als auch rechtskonservative Reflex, den Terror und das Grauen von Paris als Bestätigung für das zu sehen, was man schon immer gesagt hat. Nun ist die eine Frage: Wie positionieren sich die Grünen an diesem Wochenende auf ihrer Bundesdelegiertenversammlung in Halle? Bringen sie etwas Neues in diese beschissene Realität oder bringen sie sich verbalradikal in Sicherheit?
Wir Deutsche stehen in diesem Herbst – Hans Ulrich Gumbrecht hat das geschrieben – vor einer Zäsur: Unser aus der unauslöschlichen Schuld entstandenes Streben nach absoluter moralischer Autorität war wichtig für die alles in allem ordentliche zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber im 21. Jahrhundert wird es keine Moral durch Raushalten mehr geben. Nicht außenpolitisch und nicht für Parteien oder Menschen, die einen Unterschied machen.
Das ist hart für die Grünen, denn sie waren der Motor der ethisch-moralisch-emanzipatorischen Säuberungsprozesse der letzten 40 Jahre. Inklusive ihrer absurden Abgründe, zuvorderst die Fixierung auf den Kampf gegen falsches Sprechen. (Was sie sprechunfähig gemacht hat.)
Der normale Mensch weiß manchmal wirklich nicht, was sie schlimmer finden: Dass Kurden massakriert werden oder wenn Özdemir sagt, dass man den IS nicht mit Yogamatten bekämpfen kann. Wenn man die Dynamik der globalen Entwicklungen (Klimawandel, Flüchtlinge, Terror, Armut, Verwerfungen der fossilen Energien) ernst nimmt, dann gibt es nur eine gebrochene Moral des Handelns.
Es ist ein Kampf um Begriffe und Erzählungen, global ausgefochten mit Kalaschnikows, Youtube und dem Koran. Was die Gelehrten der islamischen Welt dem „Islamischen Staat“ entgegensetzen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./ 22. November 2015. Außerdem: Wie geht das Leben in Paris nach den Anschlägen weiter? Und: „Eisbären sind einfach nicht hilfreich“, sagt Srđa Popović. Der Revolutionsberater im Gespräch über Strategien im Kampf gegen den Klimawandel. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Gleichzeitig erleben wir, wie man von der rechten Seite an der Mitte zerrt. Die Mitte ist Angela Merkel mit ihrer derzeit noch sozialliberalen Politik. Was etwa die FAZ-Leitartikler mit ihr veranstalten, um sie zu harter, männlicher, rechter Flüchtlingspolitik zu bringen statt diesem fremdenfreundlichen Weiberzeug, das hat eine neue Qualität.
Müssen die Grünen sich bei aller Differenz nicht entschlossen zu Merkel stellen, um die Mehrheit für ein pragmatisch-offenes Land zu verteidigen? Das heißt nicht alles durchwinken, was unionsintern rumschwirrt. Dinge herausholen, so wie Kretschmann, Habeck und Al-Wazir das mit der Grünen Bundesratsmehrheit beim zweiten Flüchtlingskompromiss getan haben. Und die Angst vor dem Wähler, wenn man nicht radikal genug tut? Alles fließt. Die Gefahr ist genauso groß, dann mit ein paar Prozent Hardcore-Moralfundis dazusitzen.
Die Grüne Frage ist nicht, was de Maizière alles universalmoralisch falsch macht, sondern was ein Grüner Innenminister heute konkret machen würde, um die Flüchtlingsaufnahme zu managen. Was er macht, wenn es kracht. Was er macht, damit es nicht kracht. Und die Balance von Freiheit und Sicherheit gewahrt bleibt. Das aber führt zu der Erkenntnis, dass Boris Palmer ein besserer Innenminister ist als Franziska („Ska“) Keller. Also lieber nicht darüber reden.
Es wird in Halle vermutlich wieder hauptsächlich darum gehen, dass die Grünen eine Sprache finden, die die Hypermoral ihrer Seele so smart mit der Realpolitik der Grünen Länder verknüpft, dass alle damit emotional leben können.
Überhaupt: Wer spricht künftig für Grün? Das wird entscheidend sein. Wenn Özdemir spricht, hören die Grünen selbst nur Krieg. Wenn Hofreiter spricht, hören sie nur Frieden. Wenn Peter spricht, hört keiner zu. Wenn Göring-Eckardt spricht, weiß hinterher keiner, was sie gesagt hat. (Dieses Bonmot ist leider nicht von mir.) Und wenn ihr Ministerpräsident spricht, fühlen sich intern nicht alle „mitgenommen“.
Winfried Kretschmann steht übrigens mit seinem nachdenklichen Pragmatismus bei 27 Prozent.
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