Kolumne Das Schlagloch: Bildung ist keine Frage der Moral
Bessere Bildungsergebnisse und mehr Bildungsgerechtigkeit erfordern nicht nur mehr Geld, sondern vor allem auch effizientere Strukturen.
Angela Merkel hat die Bildungsrepublik ausgerufen. Derzeit reist die Kanzlerin durch Kindergärten, Schulen und Universitäten. Am 22. Oktober soll dann ein Bildungsgipfel in Dresden den richtigen Weg in die Wissensgesellschaft weisen. Dank internationaler Vergleichsstudien wie Pisa und darauf aufbauenden aktuellen Studien herrscht unter Forschern inzwischen ein breiter Konsens, wie Leistung und Chancengerechtigkeit des Systems verbessert werden können. Drei Prinzipien sind von zentraler Bedeutung:
Mehr Geld am Anfang, weniger am Ende. Im Vergleich der Bildungsrenditen weisen ganz früh im Lebensweg wirksame Investitionen die mit Abstand höchsten Erträge auf. Denn sie setzen eine sich selbst verstärkende Bildungskaskade in Gang, die der Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman mit dem Konzept des "skill multiplier" beschreibt: Frühe Bildungsinvestitionen erhöhen wie ein Multiplikator auch die Rendite aller späteren Bildungsinvestitionen. Die Strategie, mehr Geld für hochwertige Frühförderung in Krippen und Kindergärten auszugeben und dafür zu sorgen, dass wie in den skandinavischen Universalsystemen möglichst alle Kinder sie besuchen, ist daher richtig. Nicht nur effizient, sondern auch gerecht: Wenn sich die in der Geburtslotterie verteilten Vor- oder Nachteile des Elternhauses überhaupt ausgleichen lassen, dann gleich zu Beginn der individuellen Entwicklung.
Doch bisher gibt Deutschland das meiste öffentliche Geld pro Kopf am Ende des Bildungsweges aus. In den Hochschulen profitieren dann aber nur noch jene, die es nicht zuletzt dank ihrer Herkunft aus bildungsorientierten Familien bis an die Universitäten geschafft haben. Mehr Effizienz und mehr Gerechtigkeit würden erreicht, wenn Krippen und Kindergärten kostenfrei, das Studium aber kostenpflichtig wäre. Die Stiftung Warentest hat übrigens gerade ermittelt, dass Banken inzwischen gerne Studienkredite vergeben, in großer Vielfalt und mit hoher Qualität. Für qualifizierte Abiturienten dürfte sich die abschreckende Wirkung von Studiengebühren daher in engen Grenzen halten.
Bildung muss sich lohnen: Fast jede Entscheidung im Bildungssystem ist, analytisch betrachtet, eine Investitionsentscheidung: Ausgaben in der Gegenwart - sei es in Form von Geld, Freizeit oder Konsumverzicht - stehen in der Zukunft (hoffentlich) höhere Einnahmen gegenüber. Um die Bildungsanreize aller Beteiligten zu stärken, müssen diese Bildungsrenditen hoch genug sein. Vor allem müssen sie dort realisiert werden, wo im ersten Schritt die Bildungskosten entstanden sind. Diese Bedingung wird in Deutschland systematisch verletzt, von Anfang an.
Ein Kindergartenplatz kostet pro Jahr rund 5.000 Euro. Für die Kommunen lohnt es sich kaum, hier zu investieren. Denn wenn sich mehr Eltern dank guter Betreuungsmöglichkeiten für die Berufstätigkeit entscheiden können, dann profitieren von den zusätzlichen Einkommen vor allem Bund, Länder und Sozialkassen. Das gleiche Problem spielt eine Rolle bei den acht Prozent eines Jahrgangs, die bisher die Schule ohne Abschluss verlassen. Für die Länder lohnt es sich nicht, diese Schüler mit hohem Aufwand doch zu einer Qualifikation zu führen. Denn wenn sie aus dem länderfinanzierten Schulsystem herausfallen, übernimmt der Bund anschließend die Kosten von teuren, aber weitgehend wirkungslosen Maßnahmen zur Berufsvorbereitung.
Auch zwischen den Ländern wirken falsche Anreize. So verzeichnet Berlin bei Erstsemestern jedes Jahr einen positiven Wanderungssaldo von etwa 25.000 Studenten. Doch gerade in den teuren technisch-naturwissenschaftlichen Studiengängen mit jährlichen Kosten zwischen fünf- und zehntausend Euro pro Studienplatz findet das Gros der Akademiker den ersten Job anschließend in einem anderen Bundesland. Von den Steuerzahlungen dieser Absolventen erhält das Land Berlin dann nur ein paar hundert Euro aus dem Länderfinanzausgleich. Dieses System schafft keine Effizienz, es zementiert stattdessen strukturelle Unterfinanzierung und hohe Gewinne für die Trittbrettfahrer im Bildungsföderalismus. Der Berliner Bildungssenator fordert daher, dass die Bundesländer das Studium ihrer Landeskinder unabhängig vom Studienort finanzieren. Auch eine nachgelagerte Akademikersteuer, die Absolventen an das Bundesland ihrer Hochschule zahlen, könnte die verzerrten Anreize korrigieren.
Mehr Autonomie und Wettbewerb: Eine Studie des Münchener Bildungsökonomen Ludger Wößmann zeigt, dass die richtige Kombination aus Finanzierung und Trägerschaft die Leistungen von Schulen deutlich verbessern kann. Öffentlich finanzierte Schulen in privater Trägerschaft liefern die mit Abstand besten Resultate, wenn externe Evaluation und zentrale Prüfungen die Qualität sichern. Bei freier Schulwahl entsteht dann eine positive Wirkung im ganzen System: Länder, in denen jede öffentliche Schule die Konkurrenz einer Schule in privater Trägerschaft fürchten muss, haben auch die besseren staatlichen Schulen.
Durch mehr Autonomie der Schulen könnte auch das Trittbrettfahren in den Lehrerkollegien eingeschränkt werden. Heute schlägt sich der überdurchschnittliche Einsatz des Einzelnen vielleicht in höherer Anerkennung durch Kollegen, Schüler und Eltern nieder, nicht aber in höherem Gehalt. Wenig bis gar nicht motivierte Lehrer müssen andererseits kaum Sanktionen befürchten. Dienst nach Vorschrift wird in diesem Kontext zur rationalen Strategie. In Finnland hingegen, wo die Durchschnittseinkommen der Lehrer ein Drittel unter dem deutschen Niveau liegen, wird zusätzliches Engagement mit relevanten Gehaltsprämien honoriert. Die Ergebnisse sind bekannt.
Die Analyse zeigt: Bessere Bildungsergebnisse und mehr Bildungsgerechtigkeit erfordern nicht vor allem mehr Geld, sondern effiziente Strukturen. Aber die Orientierung an Bildungsrenditen und Investitionskalkülen stößt in Deutschland auf weitreichende Ablehnung. Noch 2004 wurde "Humankapital" von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres gekürt. Laut der Jury fördere sein Gebrauch "die primär ökonomische Bewertung aller denkbaren Lebensbezüge. (…) Humankapital degradiert nicht nur Arbeitskräfte in Betrieben, sondern Menschen überhaupt zu nur noch ökonomisch interessanten Größen."
Harry G. Johnson hat diese Juryentscheidung zwar nicht mehr erlebt - aber er hat die darin enthaltene Ablehnung schon vierzig Jahre zuvor geahnt. Als einer der einflussreichsten Ökonomen der Sechziger- und Siebzigerjahre hatte der US-Amerikaner (1923-1977) das Humankapital-Konzept mit entwickelt. Und bereits 1964 in einer OECD-Studie eindrücklich davor gewarnt, es aus Gründen eines falsch verstandenen Humanismus vorschnell abzulehnen: "Die Weigerung, den Investitionscharakter eines Problems anzuerkennen, weil es dabei um Menschen geht, könnte dazu führen, dass Menschen künftig schlechter behandelt werden als Maschinen."
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