Kolumne Cannes Cannes: Flüssigkeiten am falschen Ort
Live aus Cannes: Seltsame Jugendliche und ihre unsichtbaren Freunde. Neue Filme von Gus van Sant und Lynne Ramsay.
N achts stehen die Projektoren nicht still. Testvorführungen in den frühen Morgenstunden sorgen dafür, dass Ton, Cache und Lichtstärke bei den Pressescreenings und bei den Premieren stimmen. Für die Hälfte der Vorführungen werden mittlerweile digitale Projektoren genutzt; im kommenden Jahr sollen die Vorführräume im Palais du Festival generalüberholt werden, sodass die digitale Projektion in allen Sälen möglich wird. Es wäre schön, wenn die Renovierung die Bestuhlung einschlösse. Denn im Augenblick sitzt man, besonders in der großen Salle Débussy, so eng gedrängt, dass man seine Knie nolens volens in den Rücken des Vordermanns drückt und zugleich darunter leidet, dass der Hintermann dasselbe tut. Nicht die besten Voraussetzungen, um sich auf Gus van Sants neuen Film "Restless" zu konzentrieren.
"Restless" eröffnete am Donnerstagabend die Nebenreihe "Un certain régard" und erzählt eine Liebesgeschichte. Enoch (gespielt von Henry Hopper, dem Sohn von Dennis Hopper) besucht die Beerdigungen von Fremden. Eines Tages begegnet er dabei Annabel (Mia Wasikowska). Beide sind Teenager, doch dem Tod viel näher, als ihre Jugend erwarten ließe. Annabel leidet an einem Gehirntumor, Enoch hat seine Eltern bei einem Autounfall verloren, lag selbst drei Monate im Koma und war, wie er sagt, für einige Minuten klinisch tot.
"Restless" fällt sehr viel konventioneller aus als die Filme, die Gus van Sant in den letzten Jahren gedreht hat. In "Paranoid Park", "Elephant", "Gerry" und "Last Days" ging es zwar um ähnliche Sujets, um junge Menschen, die sich an der Schwelle von Leben und Tod bewegten, doch Ellipsen, Zeitschleifen und Perspektivaufsplitterungen stellten sich dem geradlinigen Erzählen kunstvoll in den Weg. "Restless" dagegen hält sich an die Chronologie und die Konventionen des Dreiakters. Schöne Ideen entwickelt der Film dennoch, zum Beispiel die, dass Enoch einen Freund an seiner Seite imaginiert. Dieser junge Mann namens Hiroshi ist ein japanischer Pilot, der im Zweiten Weltkrieg fiel. Angetan mit einer braunen Fliegeruniform, einer Fliegermütze und einer Armbinde mit der japanischen Flagge taucht er aus dem Nichts auf, ist da und verschwindet wieder. Wenn Enoch und Hiroshi Schiffeversenken spielen, verliert Enoch regelmäßig. "Das ist die Rache für Nagasaki", witzelt Annabel, als sie dem Phantomfreund vorgestellt wird.
Studie einer missglückten Mutterliebe
2003 zeigte Gus van Sant "Elephant" im Wettbewerb und gewann dafür die Goldene Palme. In einer raffinierten, elliptischen Struktur kreiste dieser Film um ein Schulmassaker. Lynne Ramsay, 1969 in Glasgow geboren, knüpft mit ihrem Wettbewerbsbeitrag "We Need to Talk about Kevin" thematisch daran an. Ramsay freilich rückt nicht die Jugendlichen, sondern die Mutter des Amokläufers in den Mittelpunkt. Eva (Tilda Swinton) lebt isoliert, ihr Haus wird mit Farbe beschmiert, vor dem Supermarkt gibt ihr eine Passantin eine Ohrfeige, scheinbar ohne Grund. In Rückblenden entsteht nach und nach eine Geschichte: wie Eva Franklin (John C. Reilly) kennenlernt, von ihm ein Kind bekommt, dieses Kind namens Kevin zur Welt bringt und fortan nicht mehr ein noch aus weiß. Denn schon als Kleinkind lehnt Kevin sie in allem, was er tut, ab.
"We Need to Talk about Kevin" ist beeindruckend als Studie einer missglückten Mutterliebe. Immer wieder werden Kleidungsstücke mit Farbe, Brei, Getränken, Kotze oder Marmelade besudelt, ständig sind hier Flüssigkeiten am falschen Ort - besonders stark in einer der ersten Sequenzen, die in der spanischen Ortschaft Bunyols spielt, wo Hunderte von Menschen sich in einem jährlichen Ritual mit Tomatensaft übergießen lassen. Zugleich laufen diese Bilder Gefahr, eine Spur zu deutlich auszufallen.
"We Need to Talk about Kevin" lässt keine Rätsel, nur eine Art Unbehagen: Wie ernst nimmt der Film seine Suggestion, dass aus einer scheiternden Mutter-Kind-Beziehung ein Massenmörder hervorgeht?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!