Kolumne Cannes Cannes: Die Bewegungen des Marktes
Die wichtigste Frage in Cannes lautet: Warum sind David Cronenberg und Leo Carax in ihren neuen Filmen nur so von der Limousine fasziniert?
A ls Eric Packer (Robert Pattinson) wissen möchte, wo all die Limousinen, die tagsüber durch New York fahren, die Nacht verbringen, geht ein Lachen durch die Sitzreihen im Grand Théâtre Lumière. Denn auf die Frage der Hauptfigur in David Cronenbergs Wettbewerbsbeitrag „Cosmopolis“ hat vor ein paar Tagen ein anderer Film geantwortet.
In Leos Carax’ „Holy Motors“ fahren die Limousinen am Ende ihres langen Arbeitstages in eine Garage, die so heißt wie der Film, einige von ihnen plaudern noch ein wenig, andere blinken mit ihren Rücklichtern, wieder andere verlangen nach Ruhe: „Wir müssen schlafen!“
Es ist ein Zufall, dass gleich zwei Filme, obwohl stilistisch und thematisch weit voneinander entfernt, auf Limousinen angewiesen sind. Aber es ist einer dieser Zufälle, die in Cannes auf besondere Weise nachhallen. Die Frage, warum zwei Filmemacher unabhängig voneinander auf die Idee kommen, einen Film zu drehen, in dessen Mittelpunkt eine Figur steht, die sich in einer Limousine durch einen spezifischen Raum (Paris bei Carax, New York bei Cronenberg) und einen begrenzten Zeitraum (jeweils etwa 24 Stunden) bewegt, drängt sich auf und hängt noch lange in der Luft, nachdem man sich die naheliegende Antwort – die Drehbücher wollten es so – gegeben hat.
ist Filmredakteurin der taz und berichtet aus Cannes.
Etwas Zeitdiagnostisches muss doch in dem Umstand liegen, dass die Imagination zweier Filmemacher von einer Limousine wie von einem Magneten angezogen wird, zumal wenn der jeweilige Fahrgast eine so ungreifbare, mit psychologischen Begriffen nicht fassbare Figur wie Monsieur Oscar (bei Carax) und Eric Packer (bei Cronenberg) ist. Ist die Limousine das Vehikel der Krise, das Gefährt einer Ordnung, die sich selbst zu zerstören im Begriff steht?
Seherische Gabe?
In „Holy Motors“ und „Cosmopolis“ sieht es ganz so aus. Cronenbergs Film ist eine Adaption von Don DeLillos 2003 erschienenem gleichnamigem Roman. Wenn man ihn sieht, reibt man sich verdutzt die Augen: Hatte DeLillo eine seherische Gabe, als er Jahre vor der Finanzkrise von 2008 einen Text verfasste, der ebendiese Krise und ihre Folgen zu beschreiben scheint? Die Dialoge über die Aporien des Kapitalismus, über die Abstraktionen des Gelds oder die Überflüssigkeit der Politik, außerdem die Proteste in den Bankenvierteln, die Arroganz und der Zynismus von Packer, dem auf obszöne Weise reichen Mann: all dies ist von einer frappierenden Gegenwärtigkeit.
Cronenberg sagt in Cannes, wir seien heute im Begriff, zu verstehen, dass „der Kapitalismus nicht unbedingt die Lösung für all unsere Probleme ist.“ – „Karl Marx“, sagt er außerdem, „hätte diesen Film geliebt, auch wenn er sich über die Farbe gewundert hätte; ist er doch vor der Erfindung des Farbfilms gestorben.“ Genau genommen ist Marx vor der Erfindung des Kinos gestorben, aber ich möchte hier keine Erbsen zählen.
Motiv des Lochs
„Cosmopolis“ ist konzentriert, er gönnt sich keine Ausschweifung, Cronenbergs Lust am elaborierten Dialog ist nicht zu verkennen. Das verleiht dem Film eine theoretische Dimension, wobei das Viszerale glücklicherweise nicht in den Hintergrund tritt. Das Motiv des Lochs und der Öffnung im Gegensatz zu hermetisch abgeriegelten Räumen und Körpern wird auf vielen (durchaus blutigen) Ebenen durchgespielt; und wenn der Film die These, die unsichtbare Hand halte die Märkte im Gleichgewicht und verhindere Katastrophen, entkräften möchte, dann lässt er Packers Prostata, dieses sensible, nach Berührung gierende Organ, untersuchen.
Und was findet der Arzt, als er in Packers Anus herumtastet? Eine Fehlbildung, eine Asymmetrie. Packers Mörder in spe verweist viel später darauf, dass, wenn eine Prostata asymmetrisch ist, das auch für die Bewegungen des Markts gelten kann.
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