Filmfestspiele von Cannes: Ungewohnt viel Halbgelungenes

Zum Abschluss der 65. Filmfestspiele erhält Michael Haneke zum zweiten Mal die Goldene Palme. Doch nicht alle Entscheidungen der Jury waren so überzeugend.

Das klassische Kinoerlebnis wird seltener – der klassische Glamour und die klassische Pose bleiben. Bild: reuters

Zweimal die Goldene Palme zu gewinnen ist ein rares Glück – bisher wurde es sieben Filmemachern zuteil. Seit Sonntagabend kann sich ein achter Regisseur über die Ehre freuen. Der Österreicher Michael Haneke erhielt die wichtigste Auszeichnung des Filmfestivals von Cannes für seinen Film „Amour“, nachdem er sie vor drei Jahren für „Das weiße Band“ entgegengenommen hatte.

Eine bessere Entscheidung hätte die neunköpfige Jury unter Vorsitz von Nanni Moretti nicht treffen können. Denn Hanekes minutiös beobachtete Studie über ein Ehepaar an der Schwelle zum Tod ragt aus dem diesjährigen Wettbewerb weit heraus. Sie berührt und geht nahe, ohne den Zuschauer je zu einem Gefühl zu zwingen.

Die beiden Protagonisten, großartig gespielt von Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva, sind über 80 Jahre alt, eines Morgens erleidet Anne, die Frau, einen leichten Schlaganfall, wenig später einen zweiten, schwereren, ihr Mann Georges kümmert sich rührend um sie, obwohl er dabei an seine Grenzen stößt. Trintignants Spiel macht die Ambivalenz greifbar, die aus dem Nebeneinander von Selbstlosigkeit und Überforderung, von Zärtlichkeit und Aggression resultiert.

Goldene Palme: „Amour“ von Michael Haneke (Österreich)

Großer Preis der Jury: „Reality“ von Matteo Garrone (Italien)

Preis der Jury: „The Angels Share“ von Ken Loach (Großbritannien)

Beste Schauspielerin: Cosmina Stratan und Cristina Flutur in „Beyond the Hills“ von Cristian Mungiu (Rumänien)

Bester Schauspieler: Mads Mikkelsen in „The Hunt“ von Thomas Vinterberg (Dänemark)

Bestes Drehbuch: Cristian Mungiu (Rumänien), „Beyond the Hills“

Beste Regie: Carlos Reygadas (Mexiko), „Post tenebras lux“

Und auch die Subtilität, mit der Riva die halbseitige Lähmung, den unwiderrufbaren körperlichen Verfall, schließlich das bloße Vegetieren darstellt, ist verblüffend. Die Figuren schwanken: Mal lehnen sie sich gegen den nahen Tod auf, dann wieder schicken sie sich in das Unvermeidliche. In einer Szene fragt Eva (Isabelle Huppert), die Tochter des Paars, ihren Vater, wie es nun weitergehe, und er antwortet: „Wie es weitergeht? So wie bisher. Und dann wird es schlimmer. Und dann ist es vorbei.“

Der waghalsigste Film wurde übergangen

Die übrigen Entscheidungen der Jury fielen weniger überzeugend aus als die für „Amour“. Der waghalsigste Film des Wettbewerbs, „Holy Motors“, wurde einfach übergangen. An Leos Carax’ Tour de Force schieden sich die Geister, kein Film rief in diesem Jahr so konträre Rektionen hervor: Die einen liebten, die anderen hassten ihn, ich gehöre zur ersten Gruppe.

In „Holy Motors“ lässt sich ein mysteriöser Protagonist namens Monsieur Oscar (Denis Lavant) in einer Stretchlimousine durch Paris kutschieren, verkleidet sich, schlüpft in Rollen – etwa in die eines Geschäftsmannes, eines Killers, einer buckligen Bettlerin, eines ogerartigen Monsters –, und man fragt sich: Was macht er da? Agiert er in unsichtbaren Filmsets, vor unsichtbaren Kameras? Lässt er, am Vorabend seines Todes, sein Leben Revue passieren? Imaginiert er sich als Anderen, als all diejenigen, die er nicht ist, aber sein könnte?

„Holy Motors“ bleibt die Antwort schuldig, wechselt die Stile wie Monsieur Oscar die Kostüme, verleibt sich Kinogeschichte und Carax’ bisheriges Oeuvre ein und ist ohne Frage der Film des Festivals, der seine Fantasien am ungezügeltsten auf sein Publikum losgaloppieren lässt. Ihm den Preis zu verwehren, ist das Werk von Krämerseelen.

Ähnliches Pech hatten andere überzeugende Filme: „Moonrise Kingdom“ von Wes Anderson, „Cosmopolis“ von David Cronenberg, „Vous n’avez encore rien vu“ („Ihr werdet euch noch wundern“) von Alain Resnais oder „In Another Country“ von Hong Sangsoo. Stattdessen gingen die Preise unter anderem an Ken Loachs Feelgoodmovie „The Angels’ Share“, an Cristian Mungius bleischweres Klosterdrama „Beyond the Hills“, an Carlos Reygadas’ szenenweise großartiges, dann wieder am eigenen Stilwillen erstickendes Kunstkino „Post tenebras lux“ und an Matteo Garrones zwar virtuose, aber auch ein wenig an der Gegenwart vorbei inszenierte Satire „Reality“.

Ungewohnt viel Halbgelungenes

In diesen disparaten Entscheidungen zeichnet sich ab, was ein Problem des diesjährigen Festivals war: Es gab im Wettbewerb wie in den übrigen Sektionen recht viel Mittelmaß zu sehen, ungewohnt viel Halbgelungenes für Cannes. Retrospektiv fällt damit auch ein trübes Licht auf den Umstand, dass, wie vor zwei Jahren schon, keine einzige Regisseurin im Wettbewerb vertreten war.

Eine scharf formulierte Protestnote, unter anderem von Virginie Despentes, Coline Serreau und Fanny Cottençon unterzeichnet, prangerte das Fehlen von Filmemacherinnen an; die patzige Reaktion des künstlerischen Direktors Thierry Frémaux ließ nicht auf sich warten: Man wähle Filme nicht nach dem Geschlecht der Regisseure aus, erklärte er, was zähle, sei allein die künstlerische Qualität.

In der Festivalwirklichkeit zählen der Länderproporz und die Macht eines Weltvertriebs wie Wild Bunch nicht minder, und wo sich die künstlerische Qualität in Walter Salles’ ödem Roadmovie „On the Road“, der Verfilmung des Romans von Jack Kerouac, verbirgt, möge Frémaux doch bitte einmal erklären – biederere Beatniks habe ich noch nie gesehen.

Mindestens genauso fragwürdig bleibt, was an Yousry Nasrallahs „After the Battle“ kunstvoll ist, einem Film, der in erster Linie Frontalunterricht in Sachen ägyptische Revolution betreibt. Der Wunsch, aktuelle Weltpolitik im Programm abzubilden, wog hier offensichtlich schwerer als jede ästhetische Abwägung.

Hätte sich Thierry Frémaux doch lieber mal den Abschlussfilm in der Quinzaine des Réalisateurs angeschaut: Noémy Lvovskys „Camille redouble“ („Camille bleibt sitzen“) ist eine ebenso leichtfüßige wie melancholische Reflexion über das Verstreichen der Zeit und die Wunden, die sie schlägt, es ist ein Film, der den Erfahrungshorizont einer Frau Anfang vierzig auslotet und dabei einen so einfachen wie smarten Trick bemüht: Nach einer Ohnmacht in der Silvesternacht erwacht die Protagonistin Camille (Noémy Lvovsky), die von ihrem Mann einer Jüngeren wegen verlassen wurde, als Teenager in einem Krankenhausbett.

Lvovskys Trick mit den Teenager-Klamotten

Die Krankenschwester schilt sie wegen des exzessiven Trinkens, ihre Eltern holen sie tadelnden Blicks ab, fortan geht sie wieder zur Schule, begegnet ihrem Ehemann in spe als jungem Mann und versucht sich seinen Avancen zu entziehen, da sie ja weiß, wie kläglich es ausgehen wird. Lvovskys Trick besteht darin, Camille zwar in 80er-Jahre-Teenager-Klamotten zu stecken und ihrem Gesicht eine zarte Röte zu verleihen, die sie sich als Erwachsene weggesoffen hat.

Doch die Darstellerin bleibt dieselbe: Wir sehen die 40-Jährige, und die Figur hat die entsprechende Lebenserfahrung, während alle anderen Figuren Camille als Teenager behandeln. „Camille redouble“ mag die Filmkunst nicht neu erfinden, hätte einen Platz im Wettbewerb aber durchaus verdient. Immerhin kann sich der Film von Lvovsky – die in hiesigen Kinos zurzeit als Schauspielerin in Bertrand Bonellos „Haus der Sünde“ und in Benoît Jacquots „Lebewohl, meine Königin!“ zu bewundern ist – über den Hauptpreis der Quinzaine des Réalisateurs freuen.

Was bleibt von diesem 65. Festivaljahrgang, außer einzelnen herausragenden Filmen und verstreuten Impressionen? Der Eindruck, dass viele Filmemacher nach Wegen suchen, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen – einfühlsam und subtil wie Haneke, delirierend wie Leos Carax, verspielt und verschachtelt wie Rañl Ruiz in seinem postum fertiggestellten „La noche de enfrente“ („Die Nacht von gegenüber“, in der Quinzaine des Réalisateurs), aber auch losgelöst von einer einzelnen, psychologisch fassbaren Figur wie in Cronenbergs „Cosmopolis“, der Adaption des Romans von Don Delillo, in der sich der Todestrieb der Finanzmärkte im Protagonisten ein Trägermedium sucht.

Und auch Alain Resnais, der in wenigen Tagen seinen 90. Geburtstag feiert, beschäftigt sich in seinem Wettbewerbsbeitrag „Ihr werdet euch noch wundern“ mit dem Tod, wobei sich hier am deutlichsten eine weitere Tendenz des Festivals abzeichnet: die zur Metafiktion. Das Kino denkt über sich selbst nach und darüber, wie es Geschichten erzählt, es fragt nach dem Verhältnis von Schauspieler und Rolle, es fragt nach den Folgen der Digitalisierung, nach dem, was auf den Tod des analogen Kinos folgen wird.

Das klassische Kinoerlebnis – viele Menschen sitzen zu einer verabredeten Zeit in einem großen, dunklen Raum und teilen eine Erfahrung – wird rarer, die neuen Kanäle wie YouTube, mubi.com, iTunes, Snag Films und die Torrents gewinnen an Macht. Was das langfristig für die Zukunft der großen Filmfestivals bedeutet, ist hier und heute schwer zu ermessen. Hoffen wir auf ein Weiterleben nach dem Tod.

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