Kolumne Berliner Szenen: Man kann vom Gegenteil ausgehen
Das Stadtbad Neukölln hat des Öfteren Personalmangel und muss die zweite Halle schließen. Spaß gibt es trotzdem.
E in freier Werktag, ich gehe schwimmen. Auf dem Weg zum Stadtbad Neukölln geht vor mir eine Hipsterin. ’n Scheiß muss ich steht auf ihrem Jutebeutel Schrägstrich Rucksack. Vermutlich meint sie es so, vermutlich hat sie sich den Beutel gekauft, weil sie es wirklich so meint, überlege ich: Dass sie ’n Scheiß muss.
Eigentlich kann man aber vom Gegenteil ausgehen. Dass sie vielerlei Pflichten hat und Anweisungen entgegennimmt, die sie auch brav befolgt. Und nun versucht, sich per Jutebeutel gegen den Konformitätsdruck zu wehren. Ich würde Beutel verkaufen, auf denen genau das steht: Man kann vom Gegenteil ausgehen. Gilt fast immer, der Satz.
Sie biegt ab und wird bald von drei Schülerinnen abgelöst, die noch klassisch Ranzen tragen. Eine lässt sich fallen, und bewirft dann eines der vorderen Mädchen mit einem Schneeball. Das Mädchen dreht sich um: „Bist du behindert?“ Weiter nichts, Ende der Situation.
Später im Schwimmbad: Drei Jungs, ungefähr gleiches Alter, also höchstens zehn. Stellen sich vor dem Becken in eine Reihe und schubsen sich ins Wasser. Der Vorletzte schubst den Drittletzten, der Letzte sagt zum Vorletzten: „So, jetzt ich dich!“, und schubst ihn ins Wasser.
Er bleibt also übrig und ruft aus: „So, jetzt ich mich selber!“ Und tatsächlich setzt er sich die Arme in den Rücken und schubst sich ins Wasser. Allen ist gedient.
Das Stadtbad Neukölln ist mal wieder viel zu voll. Bahnen ziehen ist hier wie umgedrehtes Tetris: Man muss sich die Lücke suchen. Es ist einer dieser Tage mit Personalmangel, an denen das zweite Becken, die „Kleine Halle“, „aus technischen Gründen“ geschlossen bleibt.
Die erwachsenen Schwimmerinnen ziehen ohne eine Spur von Ausdruck ihre Bahnen. Eine trägt wasserfesten Lippenstift.
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