Kolumne Berliner Galerien: Wer weiß, wo wir sind?

Kolumnistin Beate Scheder empfiehlt Videorbeiten von D. N. Rodowick und das Project Space Festival. Selda Asal von Apartment Project im Interview.

Der DISPLAY Projektraum zeigt am 5. 8. Videoarbeiten. Standbild aus der Videoarbeit „Classified Digits“ von Christine Sun Kim and Thomas Mader, 2016 Foto: Christine Sun Kim and Thomas Mader

Vom Sehen und Gesehen-werden handeln die Videoarbeiten von D. N. Rodowick, mit denen die Galerie Campagne Première aufwartet. „The Wanderers“ ist die Gegenüberstellung von zwei Filmklassikern aus den 1950er Jahren: Roberto Rossellinis „Viaggio in Italia“ (1954) und Alfred Hitchcocks „Vertigo“ (1958). Rodowick, eigentlich Filmtheoretiker, Kritiker und Kurator, hat aus beiden Filmen alle männlichen Charaktere und so manche Szene herausgeschnitten und sie auf stumm gestellt.

Zurück blieben zwei Frauen in Großaufnahme: Ingrid Bergman in der Rolle der Katherine Joyce, wie sie durch Neapel fährt, die Stadt, antike Statuen und den Vesuv bestaunt; Kim Novak als Unternehmergattin Madeleine Elster beziehungsweise Verkäuferin Judy Barton, observiert von Expolizist Scottie Ferguson, wie sie im Wahn durch Kalifornien kurvt. Die eine betrachtet, die andere wird betrachtet.

Bis 30. 9., Di.–Sa., 11–18 Uhr,Chausseestr. 116

Eine dritte Arbeit schaltet noch weiter reduzierte Fassungen fast parallel, in einer vierten sind die Szenen zu einem Video zusammengeschnitten. Immer stärker treten so die Details hervor und die Filme quasi in einen Dialog mit dem prägnanten Motiv des sich durch die Straßen schlängelnden Autos als verbindendes Element.

Gemeinsam Leben im Nebel

Der Name des ein Jahr andauernden Projekts von Apartment Project hingegen passt zu den undurchsichtigen Verhältnissen unserer Zeit, in der Türkei, aber nicht nur: „Mist“, also Nebel heißt es. Künstler_innen aus Istanbul, Izmir und Mardin wohnen und arbeiten dabei gemeinsam in dem Neuköllner Raum, einer ursprünglich aus Istanbul stammenden Künstlerinitiative, gegründet von Selda Asal.

„Wer weiß, wo wir sind?“, lautet die Leitfrage von Mist, der sich die Künstler_innen filmisch, performativ, mit dem Magazin „Sis“ und in Gesprächen und Diskussionen widmen. Apartment Project stellte sich als erster Projektraum beim diesjährigen Project Space Festival vor, mit Arbeiten aus dem ersten Monat von Mist und einer Lecture-Performance von Merve Ünsal zur Macht der Bilder.

Bis 31. 8., Programm: www.projectspacefestival-berlin.com

Apartment Project: Do.–Fr. 15–19 Uhr, Hertzbergstr. 13

Jeden Tag im August, wenn Galerien klassischerweise Sommerpause machen, ist beim Project Space Festival ein anderer der nichtkommerziellen Räume an der Reihe, die in der Berliner Kunstszene für Vielfalt sorgen.

Neu sind in diesem Jahr nicht nur die Kuratoren – Marie-José Ourtilane und Heiko Pfreundt – erstmals werden auch vier überregionale Projekträume vorgestellt, die nomadisch Quartier in Berlin beziehen. Die taz sprach mit Selda Asal von Apartment Project.

Welche Ausstellung in Berlin hat dich zuletzt an- oder auch aufgeregt? Und warum?

Clemens von Wedemeyers Installation im n.b.k. Ich sah seine Arbeiten zum ersten Mal auf der dOKUMENTA (13). Hier hat er wieder historisches Material aus verschiedenen Perioden mit sozialpolitischen Beobachtungen kombiniert. Ausgangspunkt der Ausstellung ist das Filmmaterial eines Amateurkameramanns aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Mehrkanalinstallation ist auf nichtlineare Weise anhand historischer Referenzen aufgebaut. Zum Beispiel schließt eine Computerspielkonstruktion das ein, was die Kamera nicht zeigt.

Welches Konzert oder welchen Klub kannst du empfehlen?

Ich interessiere mich für elektronische, Ambient- und experimentelle Musik und verfolge das Programm von Berghain, HKW, Radialsystem und der CTM. Kürzlich war ich bei Klara Lewis im Berghain, eine junge schwedische Musikerin, die puren Sound mit verschiedenen Texturen kombiniert. So erzeugt sie mithilfe sehr einfacher Töne und Akustiken digitale Verzerrungen.

Welche Zeitung/welches Buch begleitet dich durch den Alltag?

Ein paar türkische Onlinemagazine wie T24 oder Diken, außerdem e-flux journal, BBC Newsund The Guardian.

Was ist dein nächstes Projekt?

Selda Asal ist in Izmir geboren und hat Musikwissenschaft und Kunst studiert. 1999 gründete sie in Istanbul Apartman Projesi/Apartment Project als eine der ersten unabhängigen Künstlerinitiativen. 2012 zog Apartment Project nach Berlin. Der Neuköllner Projektraum, der sich als Plattform der Kollaboration interdisziplinärer Künstler und Forscher versteht, ist Teil des diesjährigen Project Space Festivals. Asal ist Videokünstlerin und lebt in Berlin.

Wir haben gerade die erste Phase des einjährigen Projekts Mist bei Apartment Project beendet. Künstler aus Istanbul, Izmir und Mardin haben einen Monat lang zusammengelebt und -gearbeitet. Mit dem Ziel geringer Sichtbarkeit und hoher Präsenz überdenken die Künstler Positionen, Aktionen und Präsenz als Reaktion auf den sich beschleunigenden trans-geografischen Ausnahmezustand. Im November werden sie sich in der Türkei zu einer weiteren intensiven Arbeitsperiode treffen. Im Mai gipfelt all das in einer Ausstellung in Istanbul. Wir arbeiten parallel an anderen Projekten, die bald angekündigt werden.

Welcher Gegenstand/welches Ereignis des Alltags macht dir am meisten Freude?

Mein Klavier und meine Kamera. Leider habe ich noch kein Klavier in Berlin. Dafür macht mir mein Fahrrad viel Freude.

Text und Interview erscheinen im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer Donnerstags in der Printausgabe der taz

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