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Kolumne BehelfsetikettBlick aus dem Tigerkäfig

Flüchtlinge fressen oder lieber Müller einsperren? Einige Gedanken über die Kunst im Umgang mit Geflüchteten.

Bissig? Banal? Kunstaktion „Flüchtlinge fressen“. Foto: dpa

Erinnert sich noch jemand an das Zentrum für Politische Schönheit? Dessen Aktion „Flüchtlinge fressen“ ist gefühlt schon wieder ewig her. Es passiert einfach zuviel. Zwischendurch die irgendwie laue Fußball-EM, jetzt das krawallige Open-Air-Straßentheater „Rigaer94“. Man kommt mit dem Denken kaum hinterher.

Mental stecke ich wohl noch im Tigerkäfig fest und schüttele den Kopf. Weil: Ich habe die ganze Aufregung um die simple und auf Effekt getrimmte Protestaktion nicht verstanden. Hauptsache Erregungswellen in den alten und neuen Medien erzeugen. Okay, über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten, aber ich fand „Flüchtlinge fressen“ einfach überflüssig. Die Performance war mir nicht radikal genug. Sie hat niemand wirklich wehgetan. Wie auch? War ja klar, dass da kein Mensch wirklich gefressen werden würde.

Ich habe lange darüber nachgedacht, wie man besser auf die ganze Misere der im Mittelmeer und sonstwo sterbenden Flüchtlingen aufmerksam machen könnte. Ehrlich, ich bin dabei nur auf Ideen gekommen, die allesamt zuviel Horror und Splatter und Quentin Tarantino enthalten.

Eine Szenario, das mir einfiel: Eine Gruppe von linksradikalen Flüchtlingshelfern aus der Rigaer94 nimmt Sozialsenator Mario Czaja, Innensenator Frank Henkel und den Regierenden Bürgermeister Michael Müller gefangen und sperrt die drei zusammen in eine der kleinen Wohnwaben in den Tempelhofer Hangars – bei Wasser und Brot. rbb-Rampensau Ulli Zelle moderiert eine Art „Big Brother“-Show als Dauerschleife, wobei sich Czaja, Henkel und Müller Wettkämpfe der bekloppten Art liefern: auf einem Bein hüpfen und dabei versuchen, den anderen mit Schaumstoffkeulen umzuhauen.

Nur, irgendwie klingt das alles zu niedlich. Also ab mit Czaja, Henkel und Müller – die Liste der Namen bitte im Geiste nach Gutdünken verlängern – in den Tigerkäfig. Aber ach, das wäre zu billig und zu plakativ. Und alles andere, wie die Vision mit dem Fleischwolf – Lokalpolitiker zu Buletten! –, wäre zu gemein, zu menschenverachtend, ja kriminell. Kunst darf eben doch nicht alles.

Von wegen. Da denkt man immer, man wüsste und könnte es besser, und dann scheitert man schon mit der ersten Idee. Zeit für ein wenig Inspiration. Ein Besuch im Hamburger Bahnhof zum Beispiel, dem Museum für Gegenwartskunst. Die Ausstellung „Chronographia“ von Gülsün Karamustafa soll es sein. 1946 geboren, zählt Karamustafa zu den bekanntesten zeitgenössischen Künstlerinnen der Türkei, ihr Schaffen ist unglaublich vielseitig. Ihre bemerkenswerten Arbeiten zu Gender, Trans* und Feminismus passen gut in die Berliner Pridesaison mit Lesbisch-schwulem Stadtfest an diesem und der CSD-Parade am nächsten Wochenende.

Umgehauen hat mich aber ein anderes Werk, ein eher kleines, unscheinbares. Es handelt sich dabei um die Installation „Courier“ von 1991: drei weiße Westen, die zu schweben scheinen. Sie haben Kindergröße. An vielen Stellen sind unterm Vlies kleine Dinge eingenäht, sie sind nur schemenhaft zu erkennen; es dürften Zettel sein, vielleicht Schmuck und Geldstücke oder auch Bilder. Ein Zitat gibt einen ersten Hinweis: „Wenn wir die Grenzen überschreiten, verstecken wir das, was uns wertvoll war, eingenäht in den Jacken der Kinder.“

Einfach und eindringlich

Wer mehr wissen will, erfährt im Begleittext an der Wand, dass Karamustafas Großmutter wie viele andere osmanische TürkInnen im Jahr 1893 von Bulgarien in die Türkei emigrierte. Beim Grenzübertritt wurden wertvolle Aufzeichnungen und Gegenstände in die Kleidung der Kinder genäht. Die Erzählungen ihrer Großmutter im Hinterkopf, hat die Künstlerin für sie Wichtiges in die kleinen Westen eingearbeitet. Ihr persönliches Werk wird so zur Blaupause der Erfahrungen, die Geflüchtete aller zeitlichen und geografischen Kontexte miteinander vereinen.

Die Arbeit hat mich tief berührt. Sie kommt einfach und auf leisen Sohlen daher und ist alles andere als effekthaschend, laut, schillernd oder klamaukig. Dafür umso durchdringender und emotionaler, sie steckt voll Empathie und Wucht mit ihrer schlichten wie zutiefst menschlichen Botschaft. Da kann sich das Zentrum für Politische Schönheit eine dicke Scheibe von abschneiden

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