Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Party ohne Ende
Der Tourismus wächst und wächst. Manche sehen ihn als nachhaltige Heilsökonomie, andere als boomenden Klimakiller.
Die diesjährige Leistungsschau des Tourismus, die Internationale Tourismusbörse in Berlin (ITB), stand unter dem Motto eines nachhaltigen Tourismus. Tourismus, so die Welttourismusorganisation (UNWTO), sei ein Instrument zur Abschaffung der Armut, zum Schutz der Umwelt, zur Verbesserung der Lebensqualität und zur wirtschaftlichen Stärkung von Frauen und Jugendlichen. Ein Alleskönner.
„Globaler Marktplatz“, „Kompass für eine weltumspannende BranBrauchen wir eine Öko-Diktaturche“ – die ITB Berlin hat vom 8. bis 12. März mit mehr als 10.000 ausstellenden Unternehmen aus 184 Ländern und Regionen auf 160.000 Quadratmetern großflächig ihre neuesten Produkte präsentiert. Und die Reiselust ist ungebrochen. Sie wächst und wächst …
Taleb Rifai, Generalsekretär der UNWTO, suggeriert, die Welt wäre ein besserer Ort, je mehr wir reisten. Tourismus bringe Völkerverständigung, Kulturaustausch und Toleranz. Die Umwelt schone er aus eigenem Interesse. Damit dies auch wahr wird, will die UNWTO in Kooperation mit Regierungen und NGOs die Umsetzung eines nachhaltigen Tourismus fördern.
Klein-klein, gegen immer größer
Zu den Akteuren, die sich wirklich nachhaltig um den nachhaltigen Tourismus verdient gemacht haben, gehören der Evangelische Entwicklunsdienst (www.ekd.de/tourismwatch.html), der Studienkreis für Tourismus und Entwicklung (www.studienkreis.org) und der Schweizer Arbeitskreis Tourismus und Entwicklung (www.akte.ch).
Sie verhandeln über Menschenrechte im Tourismus, sie stellen die entscheidenden Fragen: Wie soll das Reisen bei ständig steigenden Flugzahlen nachhaltiger werden? Wie kann die lokale Bevölkerung langfristig vom Tourismus profitieren, ohne von diesem Sektor abhängig zu werden? Wie können die Gewinne aus dem Tourismus in die lokalen Strukturen zurückfließen? Wie soll die Bevölkerung an Entscheidungsprozessen beteiligt werden?
Der alljährliche TO-DO!-Preis des Studienkreises für Tourismus ging dieses Jahr an Myanmar, Southern Shan State – das Projekt einer Dorfgemeinschaft (www.cit-paoregion.com) – und an Kibale Association for rural und environmental developement in Uganda (www.bigodi-tourism.org) – ein Projekt, das die Sumpfgebiete im Norden Ugandas zur Touristenattraktion aufwerten will. Klein-Klein gegen groß und immer größer: Auf der weltgrößten Tourismusmesse gehen solche Auszeichnungen unter.
Brauchen wir eine Öko-Diktatur?
Einen Preis für Menschenrechte erhielt die britische Gewerkschaft Unite. Sie kämpft für bessere Arbeitsbedingungen im schlecht zahlenden Tourismusgewerbe, dessen Londoner Angestellte zu 70 Prozent Migrationshintergrund und wenig Sicherheit haben. (www.unitetheunion.org). Preisverleihungen können die Bekanntheit und das Anliegen eines Projekts stärken. Schade nur, dass die Verleihung so trocken und freudlos inszeniert war, als wäre nachhaltiger Tourismus eine Strafe.
Auch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) war in Sachen Tourismus auf der Messe unterwegs. Unter anderem mit einer Diskussion über die Auswirkungen des boomenden Kreuzfahrttourismus mit 26 Millionen Passagieren weltweit. Die Kreuzfahrt wird in unsicheren Zeiten zum „Hort der Sicherheit“. Martina von Münchhausen, Tourismusexpertin bei WWF Deutschland, präsentierte eine Studie über Kreuzfahrttourismus in der Karibik: zerstörte Korallenriffs, eine gewaltige Energiebilanz, unzureichende Müllverklappung, Dumpingpreise bei der lokalen Wertschöpfung an Land, Abwasser, die ins Meer gelangen.
Mehr Plastik als Fische im Meer und die Strände gehen mit dem Klimawandel unter – dabei liegen 80 Prozent der Reiseziele am Meer. Das könnte sich ändern. Schneller, höher, weiter war eigentlich gestern. Auf einer Diskussion über „Tourismus im Anthropozän“ stand die Frage im Mittelpunkt, was die enthemmte Party stoppen könnte. Außer dem Begriff „Öko-Diktatur“ fielen keine anderen bemerkenswerte Lösungsansätze.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen