Kolumne Afrobeat: Kinder des weißen Terrors
Kein marokkanischer oder algerischer Rentner heißt die Anschläge in Paris und Brüssel gut. Aber der Terror hat eine Verbindung zu den Kolonialkriegen.
D rei Tage vor den Brüsseler Terroranschlägen, am 19. März, trat Frankreichs Präsident FrançoisHollande in Paris vor die französische Gedenkstätte für die Toten des Algerienkrieges und legte einen Kranz nieder. Der 19. März erinnert an den Tag des Inkrafttretens des Waffenstillstandes von Evian im Jahr 1962 nach fast siebeneinhalb Jahren Krieg mit mindestens 400.000 Toten. Kurz darauf wurde Algerien unabhängig. Der Algerienkrieg war der blutigste Kolonialkrieg Frankreichs, seine Opfer zu ehren sollte eine Selbstverständlichkeit sein.
Ist es aber nicht. Die Gedenkstätte gibt es erst seit 2002, den Gedenktag seit 2012, und 2016 war das erste Jahr, in dem überhaupt ein französischer Staatspräsident ihn beging. Hollandes konservativer Vorgänger Nicolas Sarkozy schimpfte, dieses Datum sei eines französischen Staatschefs unwürdig, denn es bedeute, „dass es jetzt eine gute und schlechte Seite der Geschichte gibt und dass Frankreich auf der schlechten Seite stand“.
Was ja nicht sein kann. Unter Präsident Sarkozy waren Frankreichs Geschichtslehrer angehalten, im Schulunterricht die guten Seiten der Kolonialherrschaft hervorzuheben, und er selbst dozierte vor afrikanischem Publikum, „der afrikanische Mann“ sei „noch nicht in die Geschichte eingetreten“; all das ist keine zehn Jahre her. Was hat das mit Brüssel zu tun? Nichts. Und doch sehr viel.
Der Paris-Attentäter Salah Abdeslam, dessen Verhaftung in Brüssel am 18. März möglicherweise seine Freunde zu den Anschlägen vom22. März provozierte, ist Sohn eines Marokkaners, geboren 1949 im algerischen Oran. Seine Familie zog während des Algerienkrieges zurück nach Marokko, ins heimatliche Rif an der Mittelmeerküste, wo er heiratete und dann nach Frankreich auswanderte; deswegen ist sein jetzt inhaftierter Sohn, obwohl in Belgien geboren, Franzose. Marokkos Rif war in den 1920er Jahren Schauplatz eines französisch-spanischen Krieges gegen eine Unabhängigkeitsbewegung, der mindestens so brutal war wie später der in Algerien.
Frankreich setzte dort erstmals Luftwaffe und Chemiewaffen gegen Zivilisten ein. Spaniens Rif-Kommandeure trugen ihren Krieg in die Heimat und errichteten die Franco-Diktatur. Ebenso wie Spaniens General Franco war auch Frankreichs Vichy-General Pétain Kommandeur im Rif-Krieg. In der Kontinuität des Vichy-Faschismus wuchs eine antigaullistische Rechte, die den Verzicht auf Algerien mit Gewalt bekämpfte und aus der später der Front National wurde.
Mögliche familiäre Prägung
Die Pariser und Brüsseler Attentäter sind sämtlich nordafrikanischer Herkunft, ihre Eltern und Großeltern sind Überlebende der Kolonialkriege. Man spricht viel über die Radikalisierung dieser Jugendlichen in Syrien, aber wenig über ihre mögliche familiäre Prägung. Kein marokkanischer oder algerischer Rentner in Frankreich oder Belgien heißt den islamistischen Terror der Gegenwart gut. Aber der Staat, dem dieser Terror gilt, war früher ihr Feind.
Frankreichs Vorgehen in Algerien war einfach und brutal: Zivilisten sind legitimes Kriegsziel, außer wenn sie ausdrücklich die Kolonialmacht unterstützen. Die französische Strategie der verbrannten Erde in Algerien ist als Militärdoktrin Vorbild für alle schmutzigen Kriege der Welt geworden, von Vietnam über Mittelamerika bis Irak. Auch Assads Armee in Syrien wendet sie fleißig an.
Wenn die Enkel der Überlebenden der Kolonialkriege den Staat, in dem sie aufwachsen, nicht als den ihren begreifen, liegt das nicht daran, dass Islamisten sie einer Gehirnwäsche unterzogen haben. Sie werden für islamistische Propaganda überhaupt erst empfänglich, weil sie sich in Europa vaterlandslos fühlen. Das liegt am Unvermögen der einstigen Kolonialmächte, die eigenen Verbrechen und deren Opfer anzuerkennen.
Folterer in Uniform
Eine Zeitreise liefert Beispiele. Genau 60 Jahre vor dem Brüsseler Anschlagstag des 22. März 2016, am 22. März 1956, fiel in Algerien der Leiter des ersten antikolonialen Aufstandes im Aurès-Gebirge und Mitgründer der Befreiungsbewegung FLN, Moustapha Ben Boulaid, einem staatlichen Terroranschlag zum Opfer: Französische Agenten hatten sein Transistorradio mit Sprengstoff präpariert. Am 22. März 1962 beschoss die antigaullistische französische Terrorarmee OAS aus Protest gegen den Waffenstillstand von Evian die Kasbah von Algier mit Raketen, 24 Menschen starben – auch dies ein Terrorakt.
Der 22. März 1962 war auch der Tag, an dem Frankreichs Regierung offiziell alle algerischen Befreiungskämpfer amnestierte. Bis dahin wurden sie noch als Terroristen verfolgt, gefoltert und massakriert. Frankreichs späterer erster sozialistischer Präsident, FrançoiMitterrand, trug damals als Innenminister dafür Verantwortung, der spätere Front-National-Gründer Jean-Marie Le Pen war einer von vielen Folterern in Uniform.
Einen Schritt weiter zurück führt die Zeitreise zur Titelseite des Toulouser Express du Midi vom 13. November 1925, 90 Jahre vor den Attentaten von Paris. Neben einer sorgenvollen Betrachtung der Krise der Intelligenz stehen da Nachrichten über Kämpfe in Syrien sowie über „marokkanische Angelegenheiten“, in denen beklagt wird, dass aufgrund schlechten Wetters die Luftangriffe im Rif pausierten. Aus dem marokkanischen Rif stammen so gut wie alle der Familien der Pariser und Brüsseler Attentäter. Solange Frankreich sein eigenes gestörtes Verhältnis zu Nordafrika nicht bereinigt, hat es Nordafrikanern keine Lektionen in Sachen Zivilisation zu erteilen.
Die französische Gedenkstätte heißt übrigens mit vollem Namen „Nationale Gedenkstätte des Krieges in Algerien und der Kämpfe in Marokko und Tunesien“ und besteht aus drei fünf Meter hohen Stelen in den französischen Nationalfarben. Die erste gedenkt der 23.000 gefallenen französischen Soldaten. Die zweite gedenkt der Opfer der Befreier nach Kriegsende sowie den Opfern eines Massakers an algerischen Demonstranten in Paris 1961. Auf der dritten Stele kann man interaktiv Namen suchen. Von den Hunderttausenden algerischen, marokkanischen und tunesischen Toten ist auf den drei Stelen keine Rede. Für sie gibt es eine Gedenktafel. Am Boden.
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