Kolumne Älter werden: Herz auf der Zunge
Warum Toleranz überbewertet wird - und manchmal einfach unerträglich ist.
Die Kolleginnen und Kollegen im Blatt kennen mein Motto längst. Es steht auf jeder Mail von mir: "Ein anständiger Mensch macht keinen Schritt, ohne Feinde zu kriegen" (Hermann Hesse). Das Motiv soll Hinweis auf die Courage zur kompromisslosen offensiven Identitätssicherung sein, die aufzubringen ich mir täglich auferlege; und auch auf die Widrigkeiten, die dabei in Kauf genommen werden müssen. Denn das Leben gerade beim Älterwerden wird dadurch nicht einfacher. Oft genug wird man beim "Klare Kante zeigen!" (Müntefering), respektive mit dem "Herz auf der Zunge!" von den ANDEREN der Arroganz bezichtigt oder als Streithansel abgetan und geschnitten. Im ungünstigsten Fall schafft man sich richtige Feinde - für das ganze Leben.
Klaus-Peter Klingelschmitt ist Korrespondent der taz in Frankfurt. Das Bild zeigt ihn im Jahre 1968.
Toleranz ist eine bei mir unterentwickelte Tugend und ein auch nur bedingt positiv besetzter Begriff. Toleranz ist nämlich Duldung; man erträgt. Das liegt mir nicht. Lieber geige ich dem Anatolier im gestreiften Nachthemd zwei Häuser weiter die Meinung, wenn er wieder einmal freihändig und mit der Gebetskette spielend zehn Meter vor seiner mit Einkaufstüten schwer bepackten Frau herläuft.
Wenn dann noch anmaßende Prediger mit ihrem vorgeblichen Wissen um den Willen Gottes von ihren Distanz schaffenden Kanzeln herab mit erhobenen Zeigefingern zur Toleranz im Umgang mit Andersdenkenden gemahnen, schwillt mir regelmäßig arg der Kamm. "Toleranz üben", etwa beim Anblick grenzdebiler Dumpfbacken in Fußballstadien, die bei den Auftritten der Nationalmannschaft "Hurra! Hurra! Die Nazis, die sind da!" grölen? Oder mit den Ackermännern dieser Welt, die mit ihrer maßlosen Gier nach Geld und Macht die Zukunft ganzer Kontinente verspielen? Man fasst es nicht: In einer Kirche in "Bankfurt" wurden tatsächlich Fürbittgottesdienste für die endlich zur Disposition stehenden Hasardeure aus den Investmentabteilungen der Bankentürme abgehalten. Dabei wären Anregungen zum Nachdenken über die Wiedereinführung der Prügelstrafe auch und gerade in den "Gotteshäusern" doch weitaus angebrachter gewesen. Peitschte nicht schon Jesus üble Geschäftemacher aus dem Tempel? Toleranz ist oft auch ein Fluchtpunkt - wenn es an Courage zur Gegenrede oder zu Widerstandshandlungen mangelt.
Auch wenn ANDERE mit den Jahren vielleicht immer (alters-) milder werden, bleibe ich auf Konfrontationskurs. Das korreliert bei mir im Alltagsgeschäft eng mit dem immer schneller werdenden Lauf der Zeit. Das knapper werdende Gut (Lebens-) Zeit ist mir einfach zu kostbar, um mich an mutmaßlichen oder tatsächlichen Holzköpfen in langen Diskursen abzuarbeiten. Und es ist ja auch oft vollkommen sinnlos. Etwa bei bestimmten Männern mit dem Vornamen Dieter: Dieter Hundt, Dieter Bohlen, Dieter Müller (Kickers Offenbach) oder gar Diether Dehm, der - weil es das einzige Unterscheidungsmerkmal von den ANDEREN ist - großen Wert auf das kleine "h" im ordinären Dieter legt. So wie auch der Kreuzzugsprediger und amtierende Fraktionsvorsitzende der CDU im Hessischen Landtag, Christean Wagner, auf das kleine "e" in seinem Vornamen. Wagner fraß bis zur Hessenwahl im Januar zu jedem Frühstück einen Grünen; heute rutscht er vor ihnen auf den Knien herum - gerne bis nach Jamaika.
Mein Kardiologe und vor allem meine Frau warnen allerdings: Sich mit JEDEM anlegen, schade der Gesundheit. Und weil ich aktuell auch schon beim Autofahren mich und meinen Benz rechts überholende Arschlöcher im Porsche etwa auf der A 66 anhupe und ihnen aggressiv den ausgestreckten Mittelfinger zeige, geben mir ihre Appelle zur Zurückhaltung jetzt doch zu denken. Mein Motto jedenfalls werde ich schon einmal ändern. "Im just a soul whos intentions are good - oh Lord, please dont let me be misunderstood" (Eric Burdon). Das ist auch mailkompatibler.
Rein: "Daniel Defoe", Romane, Bände I und II. CD: "Good Times" von Eric Burdon & War.
Raus: Brettspiele "Monopoly" und "Risiko".
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
Solidaritätszuschlag in Karlsruhe
Soli oder Haushaltsloch
Belästigung durch Hertha-BSC-Fans
Alkoholisierte Übergriffe im Zug
Ringen um Termin für Neuwahl
Wann ist denn endlich wieder Wahltag?
Habecks Ansage zur Kanzlerkandidatur
Pragmatismus am Küchentisch