Knappes Bauland in Kreuzberg: Auf dem Friedhof werden Zimmer frei
Weil auf dem Gelände eines Kreuzberger Friedhofs eine Flüchtlingsunterkunft entstehen soll, regt sich auch im selbsternannten Bezirk der Gutmenschen Protest.
Es ist kalt und zugig auf dem Kreuzberger Marheinekeplatz. Trotzdem versammeln sich am Dienstagabend mehrere Frauen und Männer vor dem Eingang der Passionskirche. Sie halten Schilder in die Luft. „Kein Bauland auf denkmalgeschützten Bergmannfriedhöfen“ steht darauf. Und: „Erst Holz, dann Beton, 1-2-3 fertig sind die Luxusbauten“. Während immer mehr Menschen in die Kirche strömen, harren sie fröstelnd aus, demonstrieren gegen den Neubau, der gleich um die Ecke auf dem Gelände des Friedrichswerderschen Friedhof an der Bergmannstraße entstehen soll.
Was daherkommt wie klassische Kreuzberger Gentrifizierungskritik ist in Wirklichkeit etwas für den Bezirk sehr Ungewöhnliches: Die Initiative setzt sich gegen den Bau einer Flüchtlingsunterkunft ein. Aus Marzahn oder Zehlendorf kennt man solche Proteste. Aber Kreuzberg? Offenbar legen auch einige Anwohner in dem selbst ernannten Bezirk der Gutmenschen nicht viel Wert auf Syrer, Iraker oder Afghanen in ihrer Nachbarschaft.
Andere, die Flüchtlinge durchaus willkommen heißen, haben bei der Bebauung des Friedhofs ebenfalls Bedenken. Bei der Info-Veranstaltung zeigen sich in der Passionskirche neben der Flüchtlingsdebatte exemplarisch all die widerstreitenden Interessen im Verteilungskampf um die wenigen innerstädtische Flächen.
Die Friedhöfe an der Bergmannstraße mit ihren von Efeu umrankten Mausoleen stammen aus dem 19. Jahrhundert. Das insgesamt fast 21 Hektar große Gelände hat den Status eines Gartendenkmals. Weil aber immer mehr Menschen sich statt in Särgen in Urnen bestatten lassen, wird nur noch die Hälfte dieser Fläche tatsächlich zu Friedhofszwecken benötigt, sagt Pfarrer Ekkehard Gahlbeck vom evangelischen Friedhofsverband Berlin Stadmitte.
Deshalb will der Verband im Süden an der Jüterboger Straße eine Fläche von 0,3 Hektar aus dem Friedhofsgelände herausschneiden. Wo bisher der Wirtschaftshof des Friedhofs war, sollen Wohnungen für insgesamt 160 Flüchtlinge entstehen, das Diakonische Werk würde die Unterkunft betreiben.
Es handle sich um Flächen, auf denen seit 25 Jahren keine Bestattungen mehr stattfänden, erklärt Gahlbeck am Dienstagabend den rund 200 AnwohnerInnen, die in die Passionskirche gekommen sind. Grauhaarige Zopfträger sind ebenso darunter wie gepflegte Damen in Strickjacken. Vielen hier im Kiez liegen die Friedhöfe am Herzen. Manche besuchen regelmäßig die Gräber von Familienangehörigen. Andere beobachten Vögel, kommen zur Ruhe. Gahlbeck betont: „Wir planen keine Bebauung der Friedhöfe an der Bergmannstraße, sondern deren langfristigen Erhalt als Ort der Trauerbewältigung.“
In der Bürgerinitiative gegen den Neubau engagieren sich nach eigenen Angaben 16 Leute. Zwischen 2.500 und 4.000 Unterschriften gegen den Bau hätten sie gesammelt, sagt deren Wortführer Klaus Lückert, ein Mann in gelbem Kapuzenpulli. In einem Brief an die Parteien im Bezirk hatte die Initiative gefragt, ob es „sinnvoll und sozial verträglich sei, einen Teil einer christlich geprägten Kulturlandschaft für mehrheitlich von Muslimen bewohnte Gebäude zur Verfügung zu stellen“. Sie warnte auch vor einer „kulturellen Segmentierung Kreuzbergs“.
Offenbar war nicht allen Nachbarn bewusst, bei wem sie da unterschrieben haben. „Ich ziehe meine Unterschrift zurück“, ruft ein Anwohner in der Passionskirche. Ein anderer tut es ihm gleich.
Doch Bedenken gegen die Bebauung gibt es sehr wohl. „Ich finde das Konzept toll. Aber besitzt die Kirche keine anderen Gelände, die nicht Gartendenkmal sind, wo man das verwirklichen kann?“, fragt eine Frau in Turnschuhen. Ein anderer argumentiert mit der Ökologie: Immer mehr Grünflächen und Brachen in der Stadt würden versiegelt. „Die sind aber für das Mikroklima enorm wichtig.“ Wieder ein anderer regt an, zwei Dinge getrennt zu diskutieren: Zum einen die Ausweisung von Flächen für den Wohnungsbau, zum anderen die Flüchtlingsunterbringung.
„Man kann den Bau nicht von der Zielgruppe trennen“, entgegnet Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann (Grüne), die ebenfalls auf dem Podium sitzt. Friedrichshain-Kreuzberg habe keine anderen Flächen für die Unterbringung von Geflüchteten, die Menschen müssten aber aus den Massenunterkünften raus. „Nur deswegen wird da gebaut.“
Tatsächlich steht der Bezirk, was die Unterbringung von Flüchtlingen angeht, im berlinweiten Vergleich eher schlecht da. 1.431 Flüchtlinge leben derzeit in Friedrichshain-Kreuzberg, nur in Neukölln sind es weniger. Zum Vergleich: Lichtenberg hat 5.832 Menschen aufgenommen. An der Kreuzberger Franz-Künstler-Straße sollte eigentlich eine Containersiedlung entstehen. Doch das klappt offenbar nicht. „Der Boden ist kontaminiert“, sagt Herrmann.
Die Kritiker der geplanten Flüchtlingsunterkunft sind in der Passionskirche deutlich in der Minderheit. Der Abend verläuft für Kreuzberger Verhältnisse zivilisiert. Niemand wird niedergebrüllt. Ob der Neubau wirklich kommt, ist allerdings unklar. Zunächst muss die Senatsverwaltung für Umwelt das Vorhaben genehmigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann