Klimaliste-Spitzenkandidat im Interview: „Auf die Grünen ist kein Verlass“
Antonio Rohrßen glaubt, dass seine Partei vom Imageverlust der Grünen durch Lützerath profitiert. Einzug in die BVV Friedrichshain-Kreuzberg als Ziel.
taz: Herr Rohrßen, die Grünen haben am Wochenende ihr Wahlprogramm beschlossen und dabei auch den Volksentscheid „Berlin 2030 klimaneutral“ begrüßt. Wie interpretieren Sie das als Spitzenkandidat der Klimaliste?
Antonio Rohrßen: Das ist reiner Wahlkampfsprech. Dahinter steckt, dass die Grünen es sich nicht verscherzen möchten mit der Berliner Klimabewegung. Mich erinnert das leider auch sehr stark daran, wie die Grünen laviert haben rund um den Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co enteignen.
29, hat Politikwissenschaften studiert. Er ist Mitbegründer der Klimaliste und beruflich in der Bewegungsförderung aktiv.
Die grüne Umweltsenatorin Bettina Jarasch und der Grünen-Parteichef Werner Graf haben immer erklärt, „Berlin 2030 klimaneutral“ ließe sich gar nicht umsetzen. Weder sei das Geld dafür da noch die erforderlichen Fachkräfte. Wie sehen Sie das?
Natürlich lässt sich das umsetzen, aber Berlin müsste sofort in den Krisenmodus schalten. Dazu sind die Grünen aber nicht bereit. Das ist auch der Kernunterschied zwischen der Klimaliste und den Grünen. Wir sagen, die Klimakrise ist so dringend, dass dafür viele andere Projekte stehen und liegen gelassen und Fachkräfte eingestellt werden müssen. Und wenn es bedeutet, dass sich Berlin hoch verschuldet, dann ist das so. An unsere Zukunft kann man kein Preisschild hängen.
Wie groß schätzen Sie den Schaden ein, den die Grünen durch die Befürwortung der Räumung von Lützerath zugunsten der Kohleförderung erlitten haben?
Ich bin mir sicher, dass die Grünen dadurch Wähler verlieren. Es haben sich auch bei uns schon Wähler*innen direkt gemeldet, ich habe solche Gespräche auch in Lützerath geführt.
Wahlergebnis Bei der vergangenen Wahl erreichte die Klimaliste 0,4 Prozent der Zweitstimmen. In Friedrichshain-Kreuzberg kam die Partei sogar auf 1,4 Prozent.
„Berlin 2030 klimaneutral“ Am 26. März stimmen die Berliner:innen über den Klimavolksentscheid ab. Briefwahlunterlagen können ab dem 13. Februar beantragt werden. Der Volksentscheid ist erfolgreich, wenn eine Mehrheit mit Ja stimmt und diese 25 Prozent der gesamten Wahlberechtigten ausmacht. (lam)
Sie haben selbst an der Besetzung teilgenommen.
Ja, unsere Bezugsgruppe hat in Lützerath bis zum letzten möglichen Moment ausgeharrt – im letzten besetzten Steinhaus.
Wird die Klimaliste bei den Wahlen von Lützerath politisch profitieren?
Da bin ich mir sicher. Vor allem Menschen, die schon in der Klimabewegung aktiv sind, suchen nach Alternativen. Ich erlebe große Frustration. Menschen, die aus Berlin kommen, haben in Lützerath zu mir gesagt: Die Grünen behaupten, sie seien eine Klimapartei, aber wenn sie in die Situation kommen, dass schwierige Entscheidungen zu treffen sind, zucken sie zurück. Wir können uns nicht auf sie verlassen. Ich würde nicht behaupten, dass jetzt alle diese Wähler*innen zur Klimaliste überwandern, aber den Grünen schadet die Entscheidung zu Lützerath massiv.
Bei der Wahl im Herbst 2021 kam die Klimaliste auf 0,4 Prozent. Was erwidern Sie Leuten, die sagen, jede Stimme für eine Kleinstpartei ist eine verschenkte Stimme?
In der Vergangenheit wurde uns das häufig entgegenhalten. Menschen haben gesagt: Ihr habt das bessere Programm und die glaubwürdigeren Leute, weil wir aus der Bewegung kommen. Aber sie hätten sich nicht getraut, uns zu wählen. Dieses Mal erlebe ich das anders, auch aus einer Protestreaktion heraus. Jetzt heißt es: Wir müssen dieses Statement wirklich setzen. Auch weil die Politik ein strategisches Korrektiv braucht – auch in den Parlamenten.
Mit welchem Ergebnis rechnen Sie am 12. Februar?
Das wäre ins Blaue hineingesprochen, weil wir uns nicht in den Umfragen sehen. Aber ich denke, es gibt einen nicht unbeträchtlichen Teil von Wähler*innen in Berlin, die uns einen größeren Erfolg wünschen. Rot-Grün-Rot regiert in Berlin ja schon eine Weile, und wir sehen, dass die Klimaschutzpolitik nicht ansatzweise ausreicht, um das 1,5-Grad-Limit einzuhalten. Berlin ist nach wie vor im Blindflug, was Klimaschutz angeht. Auch wenn die Grünen 5 Prozent mehr bekämen, würde ich meine linke Hand verwetten, dass wir keine 1,5-Grad-konforme Politik bekommen. Die Partei ist dafür überhaupt nicht aufgestellt.
Aktuellen Umfragen zufolge wäre derzeit auch eine sogenannte Deutschlandkoalition aus CDU, SPD und FDP möglich. Was wäre dann?
Die drei jetzigen Regierungsparteien sagen ganz klar, dass sie zusammen weiter regieren möchten. Natürlich, alles ist möglich, es sind ja noch ein paar Wochen bis zur Wahl. Aber es wäre völlig falsch, den kleinen Parteien die Schuld zuschieben zu wollen. Wenn, dann sind es die Grünen, Linken und die SPD, die es nicht geschafft haben, genug Stimmen auf sich zu vereinen.
Warum sollte man die Klimaliste wählen?
Ich kann den Menschen der Klimagerechtigkeitsbewegung nur klar sagen: Wollt ihr Leute im Parlament, die radikal und wirklich ohne falsche Kompromisse sich für das Klima und 1,5 Grad einsetzen? Dann müsst ihr uns die Stimme geben.
Haben Sie außer Klima noch etwas anderes im Programm?
Durchaus, aber das Klima ist für uns das dominierende Ziel. Aufgrund der akuten Notsituation sagen wir, das Klima muss die Brille sein, durch die wir uns alle anderen Themen anschauen. Aber natürlich sind wir auch eine ökologische Partei von unserem Programm her. Wir setzen uns stark ein für den Wandel zu einer regenerativen Landwirtschaft, auch für Tierrechte und die Abschaffung der Massentierhaltung. Und wir sind auch eine sehr soziale Partei, die sich sehr wohl stark Gedanken macht, wie wir Wohnraum bezahlbar zur Verfügung stellen können.
Wie könnte das aussehen?
Zum Beispiel über die konsequente Umsetzung von Deutsche Wohnen & Co enteignen und auch über die Wiedereinführung der Gemeinnützigkeit beim Wohnungsbau.
Wäre der Einzug ins Abgeordnetenhaus für Sie eine Wunschvorstellung?
So würde ich das nicht nennen. Wir sind aus Notwehr in die Politik gegangen. Wir machen das eher aus Verantwortung. Bei uns ist es nicht so wie in den anderen Parteien – übrigens auch bei den Grünen –, dass überwiegend Menschen in den Jugendorganisationen herangezüchtet werden, die nur eins kennen: politische Karriere.
Was haben Sie und und Ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter für einen Background?
Wir sind zu 80 Prozent aus dem aktivistischen Bereich: ganz viel Nachbarschaftsinitiativen, Verkehrswende-Initiativen, zum Beispiel Volksentscheid autofrei, DW enteignen. Wir sind eine sehr linke Partei von unserem Programm her. Wahrscheinlich ist der Altersschnitt bei uns ein bisschen jünger als bei anderen Parteien, aber wir haben genauso Aktive, die im Rentenalter sind. Viele haben einen akademischen Background. Ich habe einen Bachelorabschluss in Politikwissenschaften gemacht, später bin ich Klimaaktivist geworden bei der Volksinitiative Klimanotstand. Das war für mich die politische Initialzündung.
Die Klimaliste hat angekündigt, sich im Wahlkampf auf Friedrichshain-Kreuzberg zu konzentrieren. Was ist der Grund?
Die kurze Vorbereitungszeit trifft die kleinen Parteien viel stärker. Wir haben leider keinen Rechtsanspruch darauf, dass die Wahlkampfkosten vom letzten Mal erstattet werden, deshalb müssen wir Geld und Ressourcen bündeln. Friedrichshain-Kreuzberg haben wir ausgewählt, weil die Grünen dort im Bezirk bereits regieren und wir dennoch viel Unzufriedenheit erleben, zum Beispiel über die Planung der Bürohochhäuser am Gleisdreieckpark oder den Amazon-Tower.
Ziel ist also, dort in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) einzuziehen?
Ja, wir haben sehr gute Chancen aufgrund der großen Unzufriedenheit, auch was die Wohnungsfrage und die Neuversiegelung angeht. Friedrichshain-Kreuzberg ist der Bezirk mit den wenigsten Grünflächen, und versiegelt munter weiter. Wir sehen uns da ganz klar als radikale ökologische Alternative.
Was ist Ihre persönliche Triebfeder?
Ich bin überzeugter Berliner, ich bin hier geboren und aufgewachsen. Ich möchte mit Berlin das Beispiel setzen, dass große Städte in Europa im Einklang mit dem Pariser Abkommen mit dem 1,5-Grad-Limit leben können. Für mich ist das auch eine Ehrensache. Ich möchte, dass meine Stadt das schafft.
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