Klimakonferenz in Marrakesch: Kleinkariert und großartig
Die Umsetzung des Klimaabkommens hat gerade erst begonnen. Der deutsche Plan gilt zu Hause als halber Flop. In Marokko gilt er als Vorbild.
Eine Woche zuvor, im kalten und verregneten Berlin, klang Weiger ganz anders. Der Plan sei „Klimaschutz von Gnaden der Industrie und Kohlelobby“, wetterte der Bayer, die Regierung habe „ganz kleines Karo geliefert“ und sei „knapp an einer Totalblamage vorbeigeschrammt“. Mit dem Plan, so Weiger, werde Bundesumweltministerin Barbara Hendricks „in Marrakesch in Erklärungsnot geraten“.
Nach Erklärungsnot sieht Hendricks nicht aus. An der Spitze der deutschen Delegation schlendert sie bei ihrem Eintreffen auf der Klimakonferenz über die Hauptstraße des Zeltdorfs, das die Marrokkaner in den staubigen Boden gestampft haben. „Barbara!“, grüßt sie Manuel Pulgar Vida mit breitem Grinsen und Wangenküsschen. Mit dem ehemaligen Umweltminister von Peru hat Hendricks 2014 die Klima-Nächte durchverhandelt. In der Pressekonferenz zur Vorstellung ihre Klimaplans gibt es Applaus. Die UNO spricht von „deutscher Führung“. Und in den Gesprächen mit anderen Delegationen höre sie „viel Zustimmung und Lob für unseren Klimaplan“, erzählt Hendricks. „Alle sagen: ‚Gut, dass ihr vorangeht!‘ “ Ein französischer Experte wundert sich: „Der Plan wird in Deutschland wirklich kritisiert?“
Die Begeisterung speist sich aus zwei Quellen: Erstens kennen selbst die Experten kaum Details. Und im Vergleich damit, was von anderen Ländern kommt, sind Hendricks’ 80 Seiten ein deutliches Signal. Gerade auf der Konferenz, die sich vom Schock und der Unsicherheit nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten erholen will, begrüßen viele den deutschen Vorstoß. Und das deutsche Geld: Die Bundesregierung sagt auch in Marrakesch Millionensummen zu: für den Anpassungsfonds der UNO und für eine „NDC-Partnerschaft“ mit über 40 Staaten, um armen Länder bei der Aufstellung von Klimaplänen zu helfen.
Schließlich sind das Ende von Kohle, Öl und Gas, die „Dekarbonisierung“, die Rettung der Wälder und eine irgendwie grüne Wirtschaft zentral im Pariser Abkommen. Was dazu weltweit nötig wäre, haben die Analysten der „Climate Action Tracker“ in Marrakesch wieder einmal drastisch vorgerechnet: Für die Klimaziele müssten die OECD-Länder bis 2030 aus der Kohle aussteigen, China bis 2040. Um die Erwärmung bis 2100 unter 1,5 Grad zu halten, haben sie zehn Gebote für die nächsten zehn Jahre formuliert, darunter: weltweit keine neuen Kohlekraftwerke, Verbot für Verbrennungsmotoren ab 2035, nur noch Nullenergiehäuser ab 2020, die Rate der Gebäudesanierung verdreifachen, ab 2020 alle Entwaldung stoppen.
Minus 80 Prozent bis 2015
47 Entwicklungsländer, die sich in der „Gruppe der Verwundbaren“ zusammengefunden haben, machten am letzten Konferenztag noch einmal Druck auf die reichen Länder: Die Armen verpflichten sich zu eigenen Klimaplänen und zu 100 Prozent Erneuerbarer Energie „so schnell wie möglich“, spätestens zwischen 2030 und 2050.
Alle Staaten sollen in den nächsten Jahren aufschreiben, wie sie zu echtem Klimaschutz kommen wollen. Sieht man sich an, was bisher dazu so vorgelegt wird, versteht man die Begeisterung für den deutschen Klimaschutzplan besser.
Der schreibt fest, dass die Emissionen in Deutschland bis 2050 um 80 bis 95 Prozent sinken sollen. Und er fixiert für 2030 ein Ziel von minus 55 Prozent, die erstmals in einer Tabelle auf die einzelnen Branchen wie Kraftwerke, Industrie, Gebäude, Landwirtschaft und Verkehr runtergerechnet werden. Die anderen Länder sind von solche konkreten Planungen zum Teil weit entfernt. Die „Mid Century Strategy for Deep Decarbonisation“ der USA etwa wurde mit großem Hallo in Marrakesch gestartet und hat ähnliche Ziele wie der deutsche Plan – allerdings erst 20 Jahre später. Die Emissionen sollen 2050 zwar bei minus 80 Prozent sein, aber der Plan verlässt sich auf eine Menge unbekannter Variablen wie die Abscheidung von CO2 oder neue Technologien. Die unbekannteste Variable aber ist der neue oberste Dienstherr der US-Klimadiplomaten. Ziemlich sicher wird unter Donald Trump diese „Strategy“ in den Schubladen verschwinden.
China, der andere große Verschmutzer, hat so viele ehrgeizige Ziele, dass sei bei der Präsentation im chinesischen Pavillon nur so über die Bildschirme flitzen. Was die Beobachter bei dem Statistikgewitter mitbekommen, ist beeindruckend: China hat demnach bereits bei energieintensiven Produkten den Höhepunkt beim Kohleeinsatz überschritten, bald sollen die CO2-Emissionen in allen Bereichen sinken. Allerdings: Auch im allerbesten Szenario liegen die Emissionen 2050 nicht bei null – sondern bei 4 Milliarden Tonnen.
Die Pläne von Kanada wiederum setzen darauf, dass die klimaschädlichen Ölsande unrentabel werden, und auch hinter Mexiko machen Beobachter Fragezeichen. Die EU hat laut dem Pariser Thinktank IDDRI zwar Fortschritte gemacht, „ist aber nicht in der Spur, um ihre Ziele für 2030 und 2050 zu erreichen“, heißt es in ihrer Analyse. Es fehle schlicht an den Fundamenten für eine echte Dekarbonisierung. Umso größer ist das erneute Lob für Deutschland: „Vor allem die Debatte über die Zukunft der Kohlereviere ist ein gutes Beispiel“, sagt IDDRI-Chefin Teresa Ribeira. „Für die Dekarbonisierung brauchen wir Konsens. Wir können nicht nur über gestrandete Investments reden, sondern müssen verhindern, dass Bevölkerungen und Regionen stranden. Da ist Deutschland führend.“
Polen einbinden
Automatisch schiebt sich Deutschland damit noch stärker in den Vordergrund der europäischen Politik. Wenn die USA neben China ausfallen, könne „und müsse Europa in diese Lücke stoßen“, sagt Barbara Hendricks. Aber so wie die EU derzeit aussieht, heißt das: vor allem Deutschland. Die Briten, neben den Deutschen immer die Klimamotoren in der EU, fallen durch den Brexit aus. „Die Sorge ist groß, dass in der Eurokrise, den Flüchtlingen und den Brexit-Problemen das Klimathema in Brüssel hinten runterfällt“, sagt Bob Ward von der London School of Economics. „Deutschland müsste hier die Führung übernehmen. Es muss vor allem Polen einbinden, aber es darf nicht erwarten, dass alle Länder seine Energiewende einfach kopieren.“ Deutschland solle in der EU auf eine radikale Dekarbonisierung drängen, aber dafür akzeptieren, dass andere Staaten Atomkraft und die umstrittene unterirdische Speicherung von CO2 (CCS) wählen.
„Unsinn“, findet Greenpeace-Chefin Jennifer Morgan: „Die Menschen in Europa wollen keine Energiewende mit Risikotechnologien.“ Deutschland habe „die Chance und die Verantwortung“ zu mehr Führerschaft beim Klima. So sieht das auch Hans-Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und langjähriger Berater in der Klimapolitik. Bei einem Ausstieg der USA aus dem Prozess könnte es eine neue Allianz geben: zwischen China, Kalifornien und Deutschland: Mit dem US-Bundesstaat, der sechstgrößten Volkswirtschaft der Welt, könnten Chinesen und Deutschen eine Blockade aus Washington umgehen.
Keine schlechten Nachrichten mehr. Nur Müsli, Kniffel und "Warten auf Godot": Eine tazlerin und ein tazler haben sich nach der US-Wahl in einen Bunker zurückgezogen. Die Reportage von Annabelle Seubert und Paul Wrusch über die Zeit, die sie nur mit sich und einer sehr lauten Klospülung verbrachten, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 19./20. November. Außerdem: In der Republik Moldau ziehen Großeltern ihre Enkel groß – weil die Eltern auswandern. US-Serien werden immer häufiger von Frauen gemacht. Wie kommt das? Und: ein Lob des Berufspolitikers. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Deutschland als Klimaschutz-Supermacht? Nach dem Hickhack um den Klimaschutzplan, nach dem Verzicht auf ein Klimaschutzgesetz? Mit einer Ministerin, die von ihrem Parteifreund und Parteichef Sigmar Gabriel inhaltlich und persönlich blamiert wurde?
2912 Kilometer südlich des „grotesken Geschachers“ um den Klimaplan genießt Hendricks die warme Sonne der Zuneigung. Sie blinzelt in das grelle Licht des Wüstenorts Ouarzazate, wo mit deutscher Hilfe für 2,2 Milliarden Dollar ein riesiges Solarkraftwerk gebaut wird. Die Manager der marokkanischen Betreiberfirma Masen bedanken sich bei der Geldgeberin, zeigen ihr stolz die Anlage und chauffieren sie durch die graubraune Wüste und die Wälder von glitzernden Parabolspiegeln. „Gut, dass der marokkanische Staat sich das auf die Fahnen geschrieben hat“, lobt die Ministerin.
Im Gepäck hatte sie eine neue Finanzspritze von 60 Millionen Euro für das Projekt. Und eine Zusage: Die nächste Klimakonferenz findet in einem Jahr in Bonn statt, eigentlich nur aus einer Notlage heraus, weil Fidschi als Gastgeber überfordert wäre. Nun also Bonn. Mitten in den Koalitionsverhandlungen nach der nächsten Bundestagswahl, frohlocken viele Klimaschützer: Da könne Deutschland dann in Echtzeit zeigen, wie sehr es am Status der Klimagroßmacht interessiert sei.
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